Das Klare und Offenbare erklärt sich selbst, Geheimnis aber wirkt schöpferisch. Immer werden darum jene Ge­stalten und Geschehnisse der Geschichte nach abermaliger Deutung und Dichtung verlangen, die ein Schleier von Ungewißheit umschattet. Als das geradezu klassische Kronbeispiel für solchen unausschöpfbaren Geheimnis-reiz eines historischen Problems darf die Lebenstragödie Maria Stuarts gelten. Kaum eine andere Frau der Weltge­schichte hat so viel Literatur gezeitigt, Dramen, Romane, Biographien und Diskussionen. Durch mehr als drei Jahrhunderte hat sie immer wieder die Dichter verlockt, die Gelehrten beschäftigt, und noch immer erzwingt sich mit unverminderter Kraft ihre Gestalt neue Gestaltung. Denn es ist der Sinn alles Verworrenen, nach der Klarheit sich zu sehnen, und alles Dunklen, nach dem Licht.

Aber auch ebenso gegensätzlich wie häufig ist das Lebengeheimnis Maria Stuarts gestaltet und gedeutet worden: es gibt vielleicht keine Frau, die in so abweichen­der Form gezeichnet worden wäre, bald als Mörderin bald als Märtyrerin, bald als törichte Intrigantin, bald als himmlische Heilige. Allein diese Verschiedenheit ihres Bildes ist merkwürdigerweise nicht verschuldet durch Mangel an überliefertem Material, sondern durch seine verwirrende Überfülle. In die Tausende und Abertausen­de gehen die aufbewahrten Dokumente, Protokolle, Ak­ten, Briefe und Berichte: immer von andern und immer mit neuem Eifer ist seit drei Jahrhunderten von Jahr zu Jahr der Prozeß um ihre Schuld oder Unschuld erneuert worden. Aber je gründlicher man die Dokumente durch-forscht, um so schmerzlicher wird man an ihnen der Fragwürdigkeit aller historischen Zeugenschaft (und da­mit Darstellung) gewahr. Denn wenn auch handschrift­lich echt und alt und archivalisch beglaubigt, muß ein Dokument darum durchaus noch nicht verläßlich und menschlich wahr sein. Kaum irgendwo deutlicher als im Falle Maria Stuarts vermag man festzustellen, in wie wilder Abweichung zur selben Stunde ein und dasselbe Geschehnis von zeitgenössischen Beobachtern berichtet werden kann. Gegen jedes dokumentarisch bezeugte Ja steht hier ein dokumentarisch bezeugtes Nein, gegen jede Anschuldigung eine Entschuldigung. Falsches ist Ech­tem, Erfundenes dem Tatsächlichen so verwirrend beige­mengt, daß man eigentlich jede Art der Auffassung auf das glaubwürdigste darzutun imstande ist: wer beweisen will, daß sie an der Ermordung ihres Gatten mitschuldig war, kann Dutzende von Zeugenaussagen beibringen, und ebenso, wer sie als unbeteiligt darzustellen bemüht ist; für jede Ausmalung ihres Charakters sind die Farben im voraus gemischt. Mengt sich dann in solche Wirrnis der vorliegenden Berichte gar noch die Parteilichkeit der Politik oder des NationalpatriotismuS, so muß die Ver­zerrung des Bildes noch gewaltsamer werden. Ohnedies schon vermag sich die menschliche Natur, sobald zwi­schen zwei Menschen, zwei Ideen, zwei Weltanschauun­gen ein Streit um Sein oder Nichtsein geht, kaum der Versuchung zu entziehen, Partei zu nehmen, dem einen recht zu geben und dem andern unrecht, den einen schuldig zu nennen und den andern unschuldig. Gehören aber, wie in dem vorliegenden Falle, die Darsteller meist selbst noch einer der beiden kämpfenden Richtungen, Religionen oder Weltanschauungen an, so ist ihre Einsei­tigkeit beinahe zwanghaft vorausbestimmt; im allgemei­nen haben die protestantischen Autoren alle Schuld restlos auf Maria Stuart, die katholischen auf Elisabeth ge­häuft. Bei den englischen Darstellern erscheint sie beinahe immer als Mörderin, bei den schottischen als makelloses Opfer niederträchtiger Verleumdung. Die Kassetten-briefe, das strittigste Diskussionsobjekt, beeiden die einen ebenso unerschütterlich als echt wie die andern als Fäl­schung, bis in das kleinste Geschehen mengt sich die parteiische Farbgebung aufdringlich ein. Vielleicht hat darum der Nichtengländer und Nichtschotte, er, dem jene blutmäßige Einstellung und Verbundenheit fehlen, eine reinere und vorurteilslosere Möglichkeit zur Objek­tivität; vielleicht ist es ihm eher gegönnt, an diese Tragö­die ausschließlich mit dem zugleich leidenschaftlichen und doch unparteiischen Interesse des Künstlers heranzu­treten.

Freilich, auch er wäre verwegen, wollte er vorgeben, die Wahrheit, die ausschließliche Wahrheit über alle Le­bensumstände M~ria Stuarts zu wissen. Was er erreichen kann, ist nur ein Maximum von Wahrscheinlichkeit, und selbst was er mit bestem Wissen und Gewissen als Objek­tivität empfindet, wird noch immer subjektiv sein. Denn da die Quellen nicht rein fließen, wird er aus Trübem seine Klarheit zu gewinnen haben. Da die gleichzeitigen Berichte einander widersprechen, wird er bei jeder Ein­zelheit in diesem Prozeß zwischen Entlastungs- und Be­lastungszeugnissen wählen müssen. Und so vorsichtig er auch wählen mag, manchmal wird er doch am redlichsten tun, seine Meinung mit einem Fragezeichen zu versehen und einzugestehen, daß die eine oder andere Lebenstat­sache Maria Stuarts im Sinne der Wahrheit dunkel geblie­ben ist und wohl auch für immer bleiben wird.

In dem vorliegenden Versuche ist darum strenge das Prinzip gewahrt, alle jene Aussagen überhaupt nicht zu verwerten, die auf der Folter oder sonst durch Angst oder Zwang abgerungen wurden: erpreßte Geständnisse darf ein wirklicher Wahrheitssucher nie als voll und gültig annehmen. Ebenso wurden die Berichte der Spione und Gesandten (beinahe dasselbe in jener Zeit) nur mit äußer­ster Vorsicht benützt und jedes Schriftstück von vorne­weg angezweifelt; wenn dennoch hier die Ansicht vertre­ten ist, daß die Sonette und zum Großteil auch die Kassettenbriefe für echt zu halten seien, so geschieht es nach strengster Überprüfung und unter Vorlegung der persönlich überzeugenden Gründe. Überall, wo in den archivalischen Dokumenten gegensätzliche Behauptun­gen sich kreuzen, wurden beide auf Ursprung und politi­sches Motiv genau untersucht und, wenn eine Entschei­dung zwischen einer und der anderen unvermeidlich war, als letzter Maßstab gesetzt, inwieweit die Einzelhandlung psychologisch mit dem Gesamtcharakter in Einklang zu bringen war.

Denn an sich ist der Charakter Maria Stuarts gar nicht so geheimnisvoll: er ist uneinheitlich nur in seinen äuße­ren Entwicklungen, innerlich aber vom Anfang bis zum Ende einig und klar. Maria Stuart gehört zu jenem sehr seltenen und erregenden Typus von Frauen, deren wirk­liche Erlebnisfähigkeit auf eine ganz knappe Frist zusam­mengedrängt ist, die eine kurze, aber heftige Blüte haben, die sich nicht ausleben in einem ganzen Leben, sondern nur in dem engen und glühenden Raum einer einzigen Leidenschaft. Bis zum dreiundzwanzigsten Jahre atmet ihr Gefühl still und flach, und ebenso wogt es vom fünfundzwanzigsten an nicht ein einziges Mal mehr stark empor, dazwischen aber tobt sich in zwei knappen Jahren ein Ausbruch von elementarer Großartigkeit orkanisch aus, und aus mittlerem Schicksal erhebt sich plötzlich eine Tragödie antikischen Maßes, groß und gewaltig gestuft wie die Orestie. Nur in diesen zwei Jahren ist Maria Stuart wahrhaft eine tragödische Gestalt, nur unter diesem Druck reißt sie sich über sich selbst empor, ihr Leben durch dieses Übermaß zerstörend und zugleich dem Ewigen bewahrend. Und nur dank dieser einen Leiden­schaft, die sie menschlich vernichtete, lebt ihr Name noch heute in Dichtung und Deutung fort.

 

 

aus: Stefan Zweig.Marias Stuart, eine Biografie