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Individuum und Gesellschaft      Frauen und Männer      Selbstbestimmung und Schein

Maria ist das Leben        Zur Figur : Elisabeth        Leicester — Mortimer — Burleigh — Shrewsbury   

Schiller dramatische Theorie            Über das Pathetische                   Über das Erhabene      

Maria-Stuart-Dramen             Sprachgestaltung         Dramatische Bewegung und symbolische Darstellung

Die Frauen und die Politik                               Verflochtenheit des Menschlichen und Politischen

(Zitate immer zusammenhängend;Quellenangabe am Ende des Abschnittes)

Individuum und Gesellschaft

 Anfang

Die These, daß Geschichte in Maria Stuart ihrer Inhaltlichkeit entleert wird, ist noch etwas abzuschattieren. So blank gilt sie für die Sozialgeschichte des Dramas:

soziale Kräfte und Gruppen treten nicht in Erscheinung, das Drama bleibt auf den politischen Raum beschränkt. Auf der politischen Ebene aber werden doch durch­aus Inhalte von den Personen vertreten und vom Autor ernstgenommen. Im Kon­fessionsstreit, im Kampf gegen ausländische Einflüsse, in den Auseinandersetzun­gen zwischen Staatsräson und Rechtlichkeit geht es durchaus um inhaltliche Posi­tionen, die dramatisch miteinander kämpfen.

Diese verschiedenen Positionen werden von Schiller jedoch nicht auf eine Zeit-achse aufgetragen. In ihnen gibt es nichts Altes und nichts Neues. So sehr sie selbst historisch bestimmt sein mögen, das Drama enthistorisiert sie zu zeitlosen Themen (nur im Motiv “Nationalitätenstreit” hofft Maria auf eine zukünftige Überwindung schlechter Gegenwart; aber gerade dieses Thema bleibt blindes Motiv). Das gibt den heftigen politischen Auseinandersetzungen etwas Statisches. In diesem Drama wird um Veränderung gekämpft, aber nicht um Zukunft. Auch auf der politischen Ebene spricht das Drama nicht von Entwicklung, kennt sein Autor keine Hoffnungen.

Darüber hinaus wird das gesamte politische Geschehen von Schiller noch einmal formalisiert und relativiert. Politische Argumente und Motive haben die adeligen Männer im Vordergrund des Geschehens, nicht aber die beiden weiblichen Hauptfiguren. Bei ihnen sind die politischen Inhalte letztlich nur Mittel zum privaten Zweck. In Maria Stuart streiten nicht zwei Königinnen miteinander, sondern zwei Frauen, und sie streiten nicht um historisch bestimmte politische Posi­tionen, sondern um unterschiedliche Konzepte individueller Freiheit, zeitloser menschlicher Selbstverwirklichung.

Mit der Konzentration aufs “Menschliche” ist die geschichtliche Realität jedoch keineswegs aus dem Drama verschwunden oder unwichtig geworden. Schillers Figuren beschränken sich nicht aufs Private; undenkbar, daß ihnen ein familiärer Raum zur Entfaltung ausreichen würde. Sie bleiben bezogen auf die geschichtliche Bühne öffentlichen, politischen Handelns. Aber der geschichtlichen Realität, in der sie agieren, ist ihre historische und ihre inhaltliche Seele ausgetrieben. Sie erscheint nur noch als allgemeiner, zeitloser Gegensatz von “Individuum” und “Gesellschaft.”

Dieser Gegensatz “Individuum und Gesellschaft”, wie er auch heute noch Litera­turinterpretationen und Allgemeinbewußtsein prägt, war von Schiller gemeint als die natürliche Grundlage der historischen Wirklichkeit, die er in seinem Drama thematisiert. Tatsächlich ist das Gegensatzpaar alles andere als natürlich, vielmehr selbst das Ergebnis einer bestimmten historischen Situation und einer bestimmten philosophischen Entscheidung innerhalb dieser Situation. Die Spuren dieses Pro­zesses sind dem, was an geschichtlicher Wirklichkeit in das Konstrukt “Gesell­schaft” eingegangen ist, erkennbar abzulesen. (Das gleiche gilt für das Konstrukt “Individuum” — dazu siehe unten)

Im Gesellschaftsbild dieses Dramas werden politische Kräfte und Spielregeln des absolutistischen Hofs formalisiert zu einem scheinbar zeitenthobenen Reich allge­meiner Selbstsucht und des Scheins. An ihn bleibt das Individuum gefesselt, von ihm löst es sich nur um den Preis seiner Bedeutungslosigkeit oder seines Lebens. Inhaltlich hat es dort gar nichts zu suchen: Es verwirklicht keine politischen Ziele und führt keine Veränderungen herbei. Wohl aber hat es ihm gegenüber seine Integrität und Selbstidentität zu wahren.

Betrachtet man Schillers Konstrukt “Individuum und Gesellschaft” in Maria Stuart als Ganzes, so zeigt es sich als eine seltsame Mischung aus Resignation und Selbstbewußtsein. Resigniert wird im Hinblick auf geschichtliche Veränderun­gen: soziale Veränderungen scheinen nicht mehr nötig, politische nicht mehr möglich. Aber die von einstigen historischen Hoffnungen des Bürgertums ent­leerte Bühne der Geschichte wird mit der moralischen Selbstidentitätsproblematik des bürgerlichen Individuums besetzt. Die — enttäuschten — Hoffnungen auf Ver­änderungen innerhalb der Geschichte erweisen sich als entbehrlich. Es gibt zwar keine bessere Welt, aber sie ist auch nicht nötig: der einzelne hat die Möglichkeit, gut zu sein.

Vielleicht ist es das, was den Erfolg von Schillers Dramen überhaupt, und gerade dieses Drama insbesonders, erklärt: der illusionslose Blick auf eine gnadenlose gesellschaftliche Wirklichkeit ohne Inhalt, ohne Sinn und ohne Hoffnungen, wenn auch in ständiger, zielloser Bewegung — und ihr gegenüber der Besitzbürger, der mit okkupatorischer Geste die höfische Welt auf seine eigenen Erfahrungen hin interpretiert (ohne Mühe ist im politischen Bild des Hofadels das ökonomische Original der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft zu erkennen) und für sich in Anspruch nimmt, ihr gegenüber stets noch seine Selbstidentität wahren zu können.

 

 

 

 

Frauen und Männer

 Anfang

Schillers Frauenbild in einem eigenen Kapitel zu behandeln, ist forschungsge­schichtlich neu. Die Literaturwissenschaft war bis vor kurzem an Untersuchun­gen auf diesem Gebiet nicht interessiert, sondern betrachtete Schillers historisch bestimmtes Frauenbild als zeitenthobene Naturkonstante, aus deren Allgemein­heit man die eigenen Urteilsmaßstäbe bezog, entweder Schillers Elisabeth kritisie­rend: dieser Dichter sei unfähig, weibliche Helden zu gestalten, oder seine Maria preisend: einmal wenigstens sei ihm eine echt weibliche Dramenfigur gelungen. Erstmals hat Sautermeister 1979 dem Thema “Patriarchalische Gesellschaft. Köni­ginnen als Frauen” eine eigene, eindringliche Untersuchung gewidmet; 1981 hat Fuhrmann rollenspezifische Widersprüche im Frauenbild von Schillers Dramen heraus gearbeitet. Bereits seit den späten 60er Jahren allerdings waren Schillers programmatische Verse über die Polarität vom Mann, der hinaus muß, und der Frau, die drinnen waltet, häufig benutzter Anlaß für antibürgerliche und antipa­triarchalische Argumentationen im Umkreis der Studenten- und der beginnenden Frauenbewegung.

Wir gehen aus von der Beobachtung Fuhrmanns, daß Schillers Frauenbild tradi­tionelle patriarchalische Rollenfixierung sowohl propagiert wie ihnen wider­spricht. Auffällig ist, wie oft in Maria Stuart der Gegensatz Mann — Frau thematisiert wird. Hier vorweg die einschlägigen Stellen: 5; 298; 331 f.; 1018 ff.; 1160—1210; 1373 ff.; 1644ff.; 1802; 1934ff.; 1970ff.; 1985ff.; 2407ff.; 3221; 3740f.; 3802—3808.

Versucht man, die Liste zu ordnen, fallen als erstes Aussagen eines “naiven männlich-patriarchalischen Rollenverständnisses ins Auge: “denn ein gebrechlich Wesen ist das Weib” (1372; ähnlich 1018; 1802; 1934ff.). Das sind auch bei Schil­ler nicht nur markige Männersprüche, sondern Maßstäbe für Verhaltensregeln: Burleigh will mit dem Klischee vom schwachen Weib die Kennedy hindern, ihrer‘ Königin auf dem Schafott beizustehen (3807), Mortimer rechtfertigt mit dem Rol­lenbild “Wenn nur der Schrecken dich gewinnen kann [...]” seine erotische Attacken auf Maria (2586ff.).

Aber auch die Frauen definieren sich und ihre Erfahrungen in diesen Mustern:

“Seine Männerkraft und meine Schwachheit” ist für Maria Schuld an ihrer Ver­führbarkeit (332), als “wehrlos Weib” sieht sich Elisabeth (3221) — das geht bis zum billigen Sexualklischee vom stets promiskuinen Mann und der unschuldigen, asexuellen Frau: “So sind die Männer. Lüstlinge sind alle!” (1988).

Es gehört zu den inzwischen gesicherten und wohl auch verbreiteten Erkenntnis­sen der historischen Sozialwissenschaften, daß diese Geschlechtsrollenbilder keine zeitlosen Wahrheiten über die natürlichen Eigenschaften von Mann und Frau darstellen, sondern historisch bestimmte Vorstellungen vom Verhältnis der Geschlechter sind, hervorgegangen aus und gebunden an Bedingungen der Sozial­geschichte des europäischen Bürgertums, an die “Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben” (Hausen 1976) und an die Herausbildung der sogenannten bürger­lichen “Kleinfamilie” mit ihren spezifischen Rollenzuweisungen. Für Deutsch­land war das 18. Jahrhundert die Periode, in der dieses Geschlechtsrollenmuster innerhalb des Bürgertums endgültig fixiert und literarisch verbreitet wurde. In Schillers Drama ist es allgegenwärtig.

Darüber hinaus wird es in Maria Stuart ausdrücklich thematisiert, als Elisabeth in 11,2 ihre französische Verlobung mit den Pflichten ihrer Frauenrolle begründet. Es sei das Gesetz einer allgemeinen “Ordnung der Natur” (1173), daß jede Frau Kinder zeugen und deshalb die eigene “Freiheit” (1166), “mein höchstes Gut” (1167), aufzugeben habe für die eheliche “Dienstbarkeit” (1210) gegenüber dem Mann. Begründung und Inhalt geben der kurzen Passage grundsätzliche Bedeu­tung.

Elisabeth bemüht nachdrücklich einen philosophischen Begründungshorizont. Nicht Wunsch oder menschliche Willkür, sondern die objektive Naturordnung weise den Frauen ihre Aufgabe zu. Gleich dreimal wird das betont: “Ordnung der Natur” (1173), “Pflichten der Natur” (1177), “Naturzweck” der Frau (1182). 

“Ordnung der Natur”: das ist im Denken der deutschen Klassik ein zentraler Wert, dem folgende philosophisch begründete Vorstellungen über die Realität zugrunde liegen: Die Wirklichkeit enthält unumstößliche Gesetzmäßigkeiten, die nicht vom Menschen gesetzt, sondern von der Natur gegeben sind. Sie bilden die Basis der Vernunft, die Richtschnur der individuellen Moral, die Grundlage gesellschaftlicher Ordnungen. Nichts kann gut sein, was gegen diese “Ordnung der Natur” verstößt. Im Namen dieses Glaubenssatzes fanden sich Goethe und Schiller 1794 im Anschluß an das berühmte Gespräch über die Urpflanze zum klassischen Bündnis. Im Sinn dieser idealistischen Weltanschauung läßt Schiller auch seine Elisabeth König Heinrich VIII. loben, daß er die naturwidrige Abson­derung von Menschen in Klöstern aufgehoben und deren Insassen “den Pflichten der Natur zurückgegeben” habe (1177), nämlich Kinder zu zeugen und zu arbei­ten (statt “müßiger Beschauung”, 1179).

Karin Hausen (1976) hat gezeigt, wie die deutsche Klassik diese allgemeine Anschauung mit speziellen Aussagen über die Unterschiede von Mann und Frau verband und damit zu folgenreichen, bis heute wirksamen Aussagen über die natürlichen Geschlechtsunterschiede kam. Die Frau ist danach “von Natur” pas­siv, emotional, für das häusliche Leben bestimmt etc., der Mann aktiv, rational, in der Öffentlichkeit tätig etc.. Die solcherart auch uns noch sattsam bekannten “Geschlechtscharaktere” sind, daran kann nach Hausens Untersuchungen kein Zweifel bestehen, eine “Leistung der deutschen Klassik” (ebd., 5.372). Vorher waren Geschlechtsunterschiede durchweg “über den Stand, also über soziale Posi­tionen und die diesen Positionen entsprechenden Tugenden” definiert (ebd., 5.370), nicht aber “als eine Kombination von Biologie und Bestimmung” “aus der Natur abgeleitet und zugleich als Wesensmerkmal in das Innere des Menschen ver­legt” worden (ebd., 5. 369f.). Mit dieser Ableitung schafft die Klassik ein neues “Legitimations- und Orientierungsmuster” (ebd., S.372), um die, für die neue Kleinfamilie notwendige, patriarchalische Ordnung zu sichern. Diese Ordnung wird nun als im natürlichen Charakter des Mannes und der Frau schlechthin ver­wurzelt angesehen. Ihre historische Bedingtheit wird dadurch verdeckt, der Patriarchalismus jeder relativierenden Diskussion entzogen.

Die neue Begründung hat Konsequenzen für den Inhalt der Frauenrolle. In ihm vermischen sich natürliche (= biologisch determinierte) mit sozialen (= historisch bedingten) Begebenheiten. Auch das wird in Elisabeths Argumentation erkenn­bar. Der Text (1172ff.) argumentiert mit dem “Naturzweck”, mit der biologisch gegebenen Tatsache, daß Frauen Kinder empfangen und gebären, Männer aber nicht — aber er spricht das nicht aus. Vielmehr gleitet er im konsekutiven Relativ-satz (1181ff.) hinüber zu den sozial bestimmten Konsequenzen dieser “Pflichten der Natur”: unter den Bedingungen der bürgerlichen Kleinfamilie, und nur unter ihnen, machen sie die “eine Hälfte des Geschlechts der Menschen / Der andern unterwürfig” (1183 f.). Auf die bürgerliche Kleinfamilie verweisen auch die weite­ren Bestimmungen, die Elisabeth eine Ehe verleiden: der Mann als “Gebieter” (1168), die “Ehe als Pflicht” (1209) und “Dienstbarkeit” (1210). Selbstreflektiert wie so oft, sagt Schillers Text dies selbst: all das sei bei der “Königin” genauso wie beim “gemeinen Bürgerweibe” (1207f.).

Im Hochadel des 16. Jahrhunderts dagegen verstanden es die Frauen durchaus, die königlichen zumal, ihre Ehemänner für die Erbfolge (und die Repräsentation) zu benutzen, ohne sich damit notwendig der patriarchalischen Macht zu unterwer­fen. Die historische Maria z. B. war ihrem Gatten Darnley eine Zeitlang erotisch verfallen, aber nie in der “Pflicht” eines “Gebieters”: sie ging auf Distanz zu ihm, sobald sie den Erben zur Welt gebracht hatte. Nicht so die Frauen bei Schiller:

seine Elisabeth spricht nicht als Königin des 16., sondern als “Bürgerweib” des 18. Jahrhunderts.

Das Frauenrollenbild des 18. Jahrhunderts ist nun auch der Rahmen, in den hinein Schiller den Charaktergegensatz seiner beiden Heldinnen entwirft. Elisabeth wird von ihm dargestellt als Königin, die ihre natürliche Bestimmung als Frau verfehlt — was er begründet und in seinen Konsequenzen zeigt. Weil Erziehung (1377ff.) und “Königspflichten” (1980ff.) sie daran hinderten, die Sicherheit einer “natürli­chen” Identität auszubilden und, wie die Stuart, einfach “ein Weib zu sein” (1986), deshalb ist sie täuschbar. Sie verrechnet sich in ihrer weiblichen Wirkung auf Mor­timer (II, 5) und wird von Leicesters Schmeicheleien zu “weiblicher” Torheit ver­leitet (11,9). Die verleugnete Frau in ihr läßt sich nicht verdrängen, die Folgen sind demütigend für die Herrscherin.

Die verleugnete Frau in ihr läßt sich aber auch nicht wiederherstellen. Gegenüber Maria gewinnt sie keinen Augenblick lang innere Sicherheit: erst verschanzt sie sich hinter ihrer Macht, dann überzieht sie ihren Haß, zuletzt muß sie “sprachlos” (nach 2444) das selbstsichere Auftrumpfen der anderen über sich ergehen lassen. Das heißt: eine Frau, die ‚männliche‘ Rollen übernommen hat, gerät in Wider­spruch zu sich selbst und wird monströs — weil sie ihrer Natur zuwider handelt, sagt Schiller; weil sie weiterhin abhängig bleibt von den patriarchalischen Rollen­bildern ihrer männlich geprägten Umgebung, sehen wir.

 Mit Elisabeths Niederlage im III. Aufzug verliert das Weiblichkeitsthema im Drama seine Dominanz. Im Monolog IV, 10 spielt die schmerzende Frauenrollen­konkurrenz für Elisabeth nur noch eine zweitrangige Rolle; ausschlaggebend für ihre Entscheidung ist jetzt die Legitimitätsfrage (3234f. gegenüber 3222 ff. und 3243 ff.). Am Ende des Dramas hat sich das Problem erledigt: gegenüber der toten Maria braucht Elisabeth sich nicht mehr um ihre Rolle als Frau zu kümmern, gegenüber dem geflohenen Leicester kann sie es nicht mehr. Als der Vorhang fällt, ist sie einsam und auf sich gestellt wie ein Mann, ganz Herrscherin, in nichts mehr Frau: eine Königin kann nicht zugleich Frau sein wollen.

Maria verkörpert das Gegenteil — im gleichen Schema. Schiller gibt ihr allen Glanz einer erotischen Frau, Schönheit, Anmut, Leidenschaftlichkeit. Sie hatte eine glückliche, verwöhnte Kindheit, eine bewegte Vergangenheit, und sie hat immer noch Erfolg bei den Männern. Ihre Weiblichkeit hat sie in Schuld verstrickt, ihre Macht sie verführt — aber immer war sie mit sich identisch. Schiller legt großen Wert darauf, daß ihre Verfehlungen aus ihrer “Natur” kamen. Hanna und Melvil interpretieren sie so (294ff.; 3470), sie selbst sieht sich nicht anders (331 f.). Was sie auch tat, sie hat sich nie von sich selbst entfernt: “falschen Schein / Hab ich ver­schmäht mit königlichem Freimut” (2423 f.). Aus dieser Selbstidentität zieht sie beim Zusammentreffen mit Elisabeth ihre überlegene Selbstsicherheit. Eine Frau, heißt das, die in Übereinstimmung mit ihrer (weiblichen) “Natur” handelt, bleibt unbeschädigt. Ihre Schuld muß sie büßen, aber ihre Taten tasten die Integrität der Person nicht an.

In ihrer Weiblichkeit liegen auch ihre Grenzen. In den beiden großen Auseinan­dersetzungen mit ihren Gegnern (1, 7 und 111,4) instrumentalisiert Maria alle poli­tischen Themen des Streits für ihre private Selbstbehauptung, und als sie stirbt, überläßt sie die politische Bühne vollends der Gegnerin: eine Frau kann nicht zugleich Königin sein wollen. Elisabeth und Maria verkörpern das gleiche Geschlechtsstereotyp. Weiblichkeit ist an Privatheit gebunden; eine öffentliche, politische Rolle kommt ihr nicht zu. Ihre spezifische Menschlichkeit kann sie nur verwirklichen, wenn sie sich vom politischen Leben entfernt hält oder sich aus ihm zurückzieht.

Das bisher Gesagte ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Das patriarchalische Frauenrollenstereotyp der Bürgerlichen Gesellschaft wird in Maria Stuart nicht nur vorgeführt und legitimiert — es wird auch kritisiert und durchbrochen.

Schon in der “Verlobungsrede” (11,2) zeigt Elisabeth Distanz zur propagierten Frauenrolle. Sie ist zwar bereit, sich ihr zu fügen, aber nur unter Protest und in heller Empörung über die Einschränkungen und Demütigungen, die ihr damit zugemutet werden: sie sei ihrem Volk also doch “nur / Ein Weib [...]‘ und ich meinte doch regiert / Zu haben wie ein Mann und wie ein König” (1169ff.). Gereizter Widerspruch auch später, wenn ein Mann glaubt, ihr mit dem Klischee vom “schwachen Geschlecht” kommen zu können: “Das Weib ist nicht schwach. [...] Ich will in meinem Beisein / Nichts von der Schwäche des Geschlechtes hören.” (1374ff.) Solchen Protest hört man aus dem Mund der “weiblicheren” Maria nicht. Aber Leiden unter der Frauenrolle, Ausgeliefertsein an die Zumutun­gen männlicher Dominanz muß auch sie erleben (III,4; 3802ff.).

Doch Schiller zeigt nicht nur die Kostenseite patriarchalischer Rollenspezifik, er überschreitet das Schema zumindest in einem wichtigen Punkt: beide Königinnen definieren sich nicht über den Mann. Elisabeth hat immer schon eine selbst be­stimmte Existenz geführt und weicht nur einmal, zu ihrem Schaden, davon ab (11,7); Maria lebt immerhin zum Zeitpunkt des Stückes in einem autonomen Ver­hältnis zur Welt (mit einem vorübergehenden Rückfall, vgl. oben Kommentar zu III, 1). Das ist nicht wenig. Zur traditionellen Frauenrolle gehört ja gerade, daß der Frau ein selbständiger Bezug zur Wirklichkeit verweigert wird. Sie lebt für den Mann, geht aus der Dominanz des Vaters in die des Gatten über, nur vermittelt über den Mann erfährt sie die Wirklichkeit. Elisabeth und Maria aber sind in dieser Hinsicht tatsächlich Königinnen, keine “Bürgerweiber”. Die Frauengestalten in Schillers Dramen leben unmittelbar zur Realität, und das gilt nicht nur für Maria Stuart: “Die Regel ist vielmehr, daß sie nach eigenem Kopf über ihr Herz und ihre Hand verfügen, am eigenen unabhängigen Urteil die Welt und den Mann messen und gemäß eigenem mehr oder minder weit gespanntem und hochfliegendem Ent­wurf ihr Dasein gestalten.” (Fuhrmann 1981, S.338 f.)

Helmut Fuhrmann hat den Widerspruch zwischen “affirmativen” und “emanzi­pativen” Zügen der Frauenproblematik bei Schiller umfassend heraus gearbeitet als Widerspruch zwischen Schillers eigenem Frauenbild, wie es sich in seinen lyri­schen, theoretischen und brieflichen Selbstaussagen spiegelt, und der Frauen-gestalt, die uns in seinen Dramen entgegentritt. Als Grund für diese Diskrepanz betont er vor allem Widersprüche in Schillers Sozialisation: seine gewaltsame Trennung von der Familie und andere Unterdrückungserfahrungen haben einer­seits eine starke Sehnsucht nach familialer Geborgenheit, andererseits eine starke Sehnsucht nach Freiheit in ihm geweckt und ihn sensibel gemacht auch für die Unfreiheit, in der die patriarchalische Gesellschaft die Frauen hält. Dem ist zuzu­stimmen, aber zugleich ist festzuhalten, daß nicht nur Schiller ein zwiespältiges Verhältnis zur Frauenproblematik zeigt.

Auch Lessing, Kant, Goethe und spätere Autoren haben die patriarchalisch bestimmte Frauenrolle der Bürgerlichen Gesellschaft propagiert und sich zugleich an ihren Widersprüchen abgearbeitet. Über die einzelnen, lebensgeschichtlichen Voraussetzungen hinaus hat das einen grundsätzlichen Aspekt. Es macht den Rang eines schriftstellerischen Werkes aus, wie weit sein Autor imstande ist, den Wertvorstellungen seiner Zeit nicht nur Folge zu leisten, sondern sich auch auf ihre Widersprüchlichkeiten einzulassen. Dieses allgemeine Postulat gilt ganz besonders dort, wo Männer über Frauen schreiben. Es spricht für Schiller, daß er am Leitbild einer umfassenden Emanzipation des Menschen, einer freien Selbst­verwirklichung für alle, und nicht nur für den Mann, festgehalten hat.

 

Selbstbestimmung und Schein

Anfang

 

Bei der Textanalyse  hatte sich der Gegensatz zwischen Figuren, die zur Selbstbestimmung fähig sind, und solchen, die es nicht sind, als wichtiges Thema gezeigt. Ihm nachzugehen, führt zum Zentrum von Schillers dramatischem Werk. Der Autor bezeichnet dieses Zentrum mit Worten wie “Freiheit”, “Idee” — Begrif­fen, die heute ohne Übersetzungsarbeit kaum verstanden werden können.

Vom 1. Aufzug an legt Schiller großen Wert darauf, daß Maria als unabhängig von den Maßstäben ihrer Umwelt gezeigt wird. Mögen Paulet und die Kennedy um Schmuck und Papiere streiten — für Maria ist königliche Würde ein innerer Wert und nicht an solchen “Flitter” (154) gebunden. Mag die Kirche ihr die Blutschuld vergeben haben — in Marias Gedächtnis bleibt selbst das nur Zugelassene als von ihr zu verantwortende Tat. Schillers Heldin richtet sich nicht nach geltender Meinung und fremder Autorität, sondern nach der Stimme ihres eigenen Gewissens. In dieser Bestimmtheit durch sich selbst liegt ihre Kraft; aus ihr schöpft sie die Sicherheit ihres Auftretens gegenüber Elisabeth: die andere lebe in Diskrepanz zwischen dem, was sie ist, und dem, was sie scheinen will — sie selbst sei stets mit sich selbst identisch gewesen und ist es auch jetzt (2421 ff.). Im V. Aufzug schließ­lich zieht sie aus der Übereinstimmung mit sich selbst ihre überlegene Todesbe­reitschaft.

Im Gegensatz zu Maria wird Elisabeth von Anfang an gezeigt als eine, die mit sich selbst nicht im reinen ist. Vom “Zweifelmut der Königin” (981) und von ihrer Bestimmbarkeit durch fremde “Meinung” (1015) spricht schon Burleigh. Im II. Äufzug gibt sie gegen ihre Überzeugung dem Drängen des Volkes auf eine Verlo­bung nach. Bei der Begegnung mit Maria im III. Aufzug ist sie gespalten zwischen politischer Vernunft und weiblichem Haß und deshalb der anderen unterlegen. Bis zum IV. Aufzug weiß sie nicht, wie sie mit der Stuart verfahren soll, weil sie nicht weiß, wo sie die Maßstäbe für ihr Urteil finden soll. Im Monolog IV, 10 schließlich spricht sie sich zwar durch zu dem, was sie selbst will — aber ihr Wille bleibt abhängig nach außen und nach innen. Ihre Bezugspunkte bleiben die Volksgunst und ihr Haß auf die andere, die sie beseitigt wissen will.

Elisabeths Entscheidung gibt ihr nur scheinbar die Freiheit, von der sie ständig spricht; tatsächlich bleibt sie gebunden an ihre Umwelt und ihre eigenen Wün­sche, Triebe und Gefühle. Das Gegenbild zeigt, was Schiller sucht: den Punkt im Menschen, in dem er nicht mehr bestimmbar ist von irgend etwas, sozusagen das reine “Ich will” im Menschen. In Schillers eigenen Worten heißt das: “das Vermö­gen des Menschen, sich selbst zu bestimmen, unabhängig von der Gewalt irgend­eines Antriebes” (NA XXI, 5. 45), komme der nun von außen (fremde Urteile oder Zwang) oder von innen (die eigene Trieb- und Wunschwelt bis hin zum bloßen Lebenswillen).

Das Drama Maria Stuart handelt die Frage nach der Möglichkeit dieses “Vermö­gens, sich selbst zu bestimmen” nicht nur in den Hauptfiguren ab. Leicester, wichtige Nebenfigur, erzählt von der hoffnungslosen Verstrickung eines Mannes in die Welt der höfischen Intrige und des Scheins; Mortimer von der Ausgeliefert­heit an die eigenen erotischen Wünsche und sexuellen Triebe. Mortimer aber zeigt auch die Möglichkeit eines Menschen, gegen alle äußere Bedrohung furchtlos auf innere Werte zu setzen und die Wahl, die das eigene Herz vornahm, höher zu stel­len als das eigene Leben.

Unterhalb dieser Figuren, die Selbstbestimmung nicht oder nur in unreiner Form verwirklichen, liegt die Ebene derer, für die ein so hochgetriebener Wert wie Selbstbestimmung oder Selbstidentität gar nicht erst zur Debatte steht. Sie sind deshalb nicht weniger achtbar (Burleigh), menschlich (Shrewsbury) und ehren­wert (Paulet), aber es mangelt ihnen an Repräsentativität und Größe. Sie stützen die Stufenleiter wachsender Selbstbestimmung, die in Maria gipfelt, nach unten ab und zeigen, daß die Fragen nach Freiheit und Selbstidentität nicht jedem Men­schen, und nicht jedem in jeder Situation, sich stellen muß. Sie sichern dem Zen­tralproblem damit seinen besonderen Rang.

So gruppiert sich die gesamte Figurenkonstellation des Dramas um diesen Punkt. Mit wieviel sinnlicher Fülle das Stück auch sonst aufwartet: hier ist es ganz dürr konstruiert, mit fast mathematischem Kalkül. Zudem ist das Problem ganz in die Gestaltung der Figuren hinein genommen; geflügelte Worte, die die Meinung des Autors zur Selbstbestimmung artikulieren, gibt es in Maria Stuart nicht.

 

Daß eine Heldin oder ein Held Rang und Überzeugungskraft aus ihrer/seiner Selbstidentität ziehen, ist eine uns heute vertraute, selbstverständliche Vorstel­lung. Jeder zweite Western lebt schließlich davon, daß der Held einsteht für das, was er für richtig hält, “tut, was ein Mann tun muß”, sei es nun gut oder schlecht. Für Schiller und seine Zeit war dieses Heldenbild keineswegs selbstverständlich. Was heute bis zum Klischee verlwmmen ist, war damals eine historische Entdek­kung.

Die Epochen vor dem deutschen Idealismus kannten einen solchen Helden nicht. Der Held des christlichen Märtyrerdramas im Barock leidet nicht um seiner Selbst-identität willen, sondern für den christlichen Glauben, und noch Lessings tragi­sche Heldinnen und Helden, Sara, Emilia und Odoardo, sind an inhaltliche Werte, an die Leitbilder der bürgerlichen Familien- und Sexualmoral gebunden —auch wenn ihnen diese nicht mehr durch religiöse Tradition von außen vorgegeben sind, sondern nur noch ‚in‘ ihnen, durch ihr eigenes Gewissen gesetzt. Erstmals im Sturm und Drang, und hier besonders beim jungen Schiller, erreicht ein Held tragische Würde, “Größe”, nicht, weil er inhaltliche Wertvorstellungen, sondern nur, weil er sich selbst verwirklichen will. Das Muster für diesen neuen Typ ist Fiesco, der schwankt, ob er “Herzog” oder “Republikaner” sein soll (II, 19) und seine Entscheidung nicht danach fällt, wo der bessere Wert, noch, wo die größere Anerkennung, sondern einzig danach, wo die größere Selbsterfüllung zu finden ist.

Schiller begründet dieses Helden- und Menschenbild auch theoretisch. “Alle andern Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will”, heißt es program­

(NA XXI, 5.38). Nicht gute und richtige Taten zeichnen den Menschen aus:

“Vernünftig handelt die ganze Natur; sein Prärogativ ist, daß er mit Bewußtsein und Willen vernünftig handelt.” Denn “der Wille ist der Geschlechtscharakter des Menschen, und die Vernunft selbst ist nur die ewige Regel desselben” (ebd.). Gegen den Vernunftbegriff der Aufklärung hält Schiller an der Grunderfahrung der Sturm-und-Drang-Generation von der Autonomie des Individuums fest.

 

Der Autonomiegedanke steht auch am Anfang von Schillers Geschichtsphiloso­phie (Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaz­schen Urkunde, 1790). Er dient ihm zu seiner Neuinterpretation des biblischen Mythos‘ vom Sündenfall, die er im Anschluß an Kants Schrift Über den mutmaß­lichen Anfang des Menschengeschlechts von 1786 vornimmt. Die im 1. Buch Mose beklagte Vertreibung aus dem Paradies meine in Wahrheit die Freisetzung des Menschen aus dem unmittelbaren Naturzusammenhang, den “Abfall des Men­schen vom Instinkte”, und diese Freisetzung sei “die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte”, denn sie bedeute “die erste Äußerung seiner Selbsttätigkeit”. Wie oben der “Wille”, so ist hier die “Selbsttätigkeit” der Geschlechtscharakter des Menschen: Sie ist es, die den Menschen “mündig” macht. Mit ihr begibt der Mensch sich “auf den gefährlichen Weg zur moralischen Freiheit” (NA XVII, S.399 f.).

Selbsttätigkeit ist Voraussetzung und Weg, ist nicht schon selbst Moral und Ver­nunft. Schillers Werk verkündet nicht einfach die Selbstbestimmung als neuen Wert, sondern behandelt sie als Problem. Die Konstruktion von Maria Stuart zeigt dieses Problem im Mittelpunkt von Schillers Interesse.

Schiller hat die paradoxe Konstellation der beiden Königinnen aus der Tradition der Stuart-Dramen übernommen. Sie alle zeigen die physisch und politisch Unter­legene als die moralische Siegerin. Schiller verschärft diesen Antagonismus und treibt ihn in das Gebiet der Moral selbst: die verbrecherische, sexuelle Frau ist die in Wahrheit Tugendhafte, die gerechte und jungfräuliche Elisabeth die in Wahr­heit Selbstsüchtige und damit Unmoralische. Es ist dies die eigentlich moderne Wendung des Stoffes in Schillers Stück. Offenbar hat gerade sie den Autor an die­sem Gegenstand interessiert. Sie gründet in Schillers Anthropologie, nach der die wahre Moralität des Menschen nicht in der einfachen Befolgung von sittlichen Regeln besteht, sondern in der bewußten und selbstbestimmten, in der autono­men Unterwerfung unter das, was für sittlich erkannt ist.

Schiller macht gerade dies durch die weitere Personalkonstruktion des Dramas deutlich: Burleigh, Shrewsbury und Paulet sind Figuren, die ‚richtig‘ (Burleigh) oder ‚gut‘ (Shrewsbury, Paulet) handeln. Sie verkörpern Vernunft und Moral in der einfachen Form, ohne das Moment von Selbstbestimmung, das allein erst in Schillers Menschenbild den Adel wahrer Größe und Vorbildlichkeit verleiht. Dann erst, wenn der Mensch mit “Bewußtsein und Willen” sittlich handelt, bedeutet das, daß er das Sittengesetz aus der Autonomie des Individuums gleich­sam neu erzeugt und begründet. Und darin erst zeigt sich die höchste Bestimmung des Menschen.

Fragt man nach den Kräften, die dem Menschen die Selbstbestimmung schwer machen, so fällt die Antwort innerhalb von Schillers theoretischer Begrifflichkeit leicht. Aus dem “Instinkt” hatte der Mensch sich im Sündenfall herausbewegt. Er hat seine “Freiheit” gewonnen, und ihr gegenüber steht seine fortdauernde Bin­dung an das Reich der “Sinnlichkeit”. Wir verwenden diese Schillerschen Begriffe nicht für unsere Interpretation; sie unterstellen eine angeblich zeitlose Natur des Menschen. Die Spaltung des Menschen in Sinnlichkeit und Vernunft als Angel­punkt von Anthropologie und Philosophie ist aber selbst eine historisch bestimmte Konstruktion des Philosophen Schiller und seiner Vorgänger seit Des­cartes, mit der sie gesellschaftliche Erfahrungen interpretieren, diese in ihrer Historizität allerdings zudeckend. Uns aber geht es darum, Schillers Denken nicht einfach zu repetieren, sondern in seinen Bedingungen zu verstehen und dadurch besser zu begreifen als er selbst. Wir halten uns deshalb an das, was das Drama vor­gibt. In Maria Stuart wird die Selbstbestimmung der Menschen verhindert durch ihre Verstrickung in die Welt des höfischen Scheins.

 

Die Textinterpretation hat hinreichend deutlich gemacht, wie beherrschend das Thema des Scheins die dargestellte Welt des absolutistischen Hofes und das Bewußtsein der in ihr agierenden Personen bestimmt. Das muß hier nicht wieder­holt werden, es genügt, einzelne, systematisch wichtige Momente herauszugrei­fen.

Die Figur, die am tiefsten in die Problematik des Scheins eingelassen ist, ist Leice­ster. Zugleich ist er derjenige, der das Spiel des Scheins wie kein anderer zu beherr­schen scheint. Gerade aber in Leicesters virtuosem Spiel zeigt der Schein sich sieg­reich über den Charakter. Als Burleigh ihn durchschaut (IV, 4), sieht Leicester nicht etwa sein wahres Sein entlarvt und den Schein aufgedeckt, vielmehr erfährt er die Situation wiederum als Übermacht des Scheins (2747; 2752), der nun sogar das als vorbedachte Hinterlist (2752; 2766) darstelle, was nur Zufall und von seiner Planung unabhängig gewesen sei. Den Zuschauer verwirrt das. War Leicesters Plan einer Begegnung in 11,9 nicht etwa Hinterlist gewesen gegen Elisabeth und zugunsten Marias? Aber warum sollte er sich im Monolog belügen? Offenbar will Schiller ihn bis in die Abgründe der eigenen Seele hinein als Spieler zeigen.

Vollends verwirrt sich das Verhältnis von Sein und Schein, wenn Leicester kurz darauf seine neue Verknüpfung der Fakten liefert (IV, 5), die nicht nur Burleigh und Elisabeth verunsichert. Auch dem Zuschauer schwindet für einen Augenblick jede Gewißheit, ob es in diesem atemberaubenden Spiel unterschiedlichster Deu­tungen der Wirklichkeit überhaupt noch so etwas gibt wie eine verläßliche Sicher­heit über das, was nun wirklich geschehen ist.

Nun: daß die Wirklichkeit hinter den Intei7pretationen von Wirklichkeit völlig verschwinde, ist als ontologische Aussage nicht Schillers Meinung. Was seine Figuren wirklich wollen, bleibt gelegentlich unsichtbar; was an Ereignissen wirk­lich geschehen ist, läßt sich in Schillers Dramen immer noch rekonstruieren, wenn auch manchmal nur mit Mühe und im nachhinein. Im Ablauf des Stückes aber haben oft nicht einmal die Zuschauer und schon gar nicht die handelnden Figuren

genügend Zeit und Vorwissen für eine solche Rekonstruktion. Beide, Zuschauer und Figuren, machen dann die schwindelerregende Erfahrung, daß der Schein undurchdringlich wird, alle Bilder sich verwirren und es nichts mehr gibt, woran man sich halten kann.

Um die bestürzende Macht des Scheins dreht sich auch Elisabeths Monolog IV, 10. Nur mit äußerster Anstrengung vermag sie hier unter den Rollenbildern und Handlungserwartungen anderer ihr eigenes Wünschen und Wollen hervorzu­graben — und bleibt schließlich noch in ihrem letzten Entschluß gebunden an die dunkle Macht des Geltens (vgl. oben, 5. 9f.).

Bei solcher Allmacht des Scheins gibt es nur einen Weg, die eigene Selbstidentität zu wahren: sich aus der höfischen Welt ganz herauszuziehen. Diesen Weg geht Maria.

Von Maria war bisher in diesem Kapitel noch nicht die Rede. Sie scheint der Schein-Sein-Problematik enthoben. Tatsächlich ist gerade sie ihr Opfer. An keine Figur im Drama heften sich so viele widersprüchliche Bilder, jeder ihrer Mitspieler hat die Vorstellung einer anderen Frau im Kopf und im Herzen. Und ihre Hin­richtung ist die tödliche Folge eines höchst realen Scheins, nämlich eines Justiz-mordes. Ihre angebliche Beteiligung an der Babington-Verschwörung, derent­wegen sie verurteilt wird, beruht (bei Schiller) auf einem falschen Zeugnis ihres Schreibers; mit dem Mortimer-Anschlag, der den Vollzug des Urteils in Gang bringt, hat sie nichts zu tun. Nicht ihre Taten und Absichten, sondern die Bedeu­tung, die die Taten und Absichten anderer ihr zuschieben, bringt ihr den Tod. Und Elisabeth will sie beseitigen, weil Maria ein Kristallisationspunkt ist für alle Zweifel an Elisabeths Legitimität; ist Maria fort, ändert sich an Elisabeths Lage nichts, außer daß diese Zweifel verstummen (3247f.).

Die Innensicht Marias läuft dem genau entgegen. Die juristische Lüge über ihre Taten wird von ihr als moralische Wahrheit akzeptiert. Der Tod, den sie wegen eines nicht begangenen Mordanschlag auf Elisabeth erleidet — sie nimmt ihn an als Sühne für die Beteiligung am Gattenmord, für die niemand sie anklagt außer ihrem Gewissen.

So entzieht sie sich der inneren Macht des Scheins, indem sie seine äußere Gewalt, der sie nicht entrinnen kann, in eine innere, moralische Wahrheit umwandelt. Mit ihrem Tod zieht sie sich nicht nur äußerlich heraus aus der politischen Welt des höfischen Scheins — sie vernichtet auch seine innere Macht, an der die Seele ihrer Gegenspielerin verbrennt. Sie bejaht ihre Vergangenheit mit ihren Verirrungen und ihrer Schuld und gewinnt durch diesen Akt von Selbstbestimmung eine nicht mehr zu gefährdende Identität mit sich selbst.

 

Der Konflikt zwischen Selbstidentität und Selbstentfremdung ist in Maria Stuart gebunden an einen bestimmten sozialen Rahmen, an das politische Handeln am absolutistischen Hof. Die Welt des Scheins ist die Welt der Politik, der Geschichte, des Hofes. Das geht nicht nur aus der Anlage des Dramas hervor, es wird im Text auch ausdrücklich betont, wenn Paulet die besondere, private, “unseres Hauses Ehre” (Hervorhebung von uns), die im “Gewissen” wurzelt, dem“schlüpfrig glatten Grund” des öffentlichen Lebens “am Hofe” gegenüberstellt (11,7; 1664ff.).

Das gilt nicht nur für Maria Stuart. Alle Schiller-Dramen zeigen in vergleichbarer Weise einerseits eine unverholene Faszination durch die Welt des Absolutismus und zugleich das moralische Verdikt dieser Welt vom Standpunkt “wahren Menschseins” aus. (Selbst in Kabale und Liebe sind sowohl die Familienkatastro­phe wie Millers finanzielle Bestechlichkeit, sind also Familie und bürgerliche Ökonomie, die nicht-politischen Konfliktfelder, vermittelt durch die Machen­schaften des Hofes.)

Schiller hat den Gegensatz “Gewissen — Hof” entschieden ins Zentrum seiner Dra­matik gestellt. Erfunden hat er ihn nicht. Seit Lessing gibt es einen breiten Konsens bürgerlicher Dramatiker in Deutschland, den Hof als den Ort der Unmoral zu verdammen und ihm die private Moral des Bürgers entgegenzusetzen. Auch Goethe hat diesen Gegensatz vom Götz bis zum Tasso immer wieder in seinen Dramen behandelt, wobei der Götz neben dem Hof auch die Städte und die Welt des neu aufkommenden Handels als Ort der Entfremdung, der Lüge und der Unmoral nennt.

Der höfisch-absolutistische Rahmen von Maria Stuart kann nicht darüber hinweg­täuschen, daß der Konflikt, der in ihm ausgetragen wird, weder so höfisch ist, wie die dargestellte Welt es vorspiegelt, noch so allgemeinmenschlich, wie die gewählte dramatische Form es unterstellt. Der Konflikt ist vielmehr hervorgegan­gen aus den Konstitutionsbedingungen und gebunden an die Erfahrungen der ent­stehenden Bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Deren, und nur deren Weltanschauung wurzelt in der Grunderfahrung vom isolierten, autonomen Indi­viduum, seiner Selbstsicherheit und Labilität, seiner Abgespaltenheit von anderen und seiner Angewiesenheit auf sie. Erst die Bürgerliche Gesellschaft kennt den Gegensatz zwischen öffentlicher und privater Sphäre (Habermas). In seinem Spannungsfeld bewegen sich die Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, die an der ideologischen Durchsetzung dieser Gesellschaft arbeiten, indem sie ihre Probleme formulieren. Die Identitätsproblematik des bürgerlichen Individuums mit seiner Gespaltenheit in private und öffentliche Existenz wird von Schiller an den Hof der Elisabeth von England transponiert.

Zur  “Geschichte” hat sich gezeigt, mit welcher Energie Schiller sein eigenes, historisch bestimmtes, aber als unhistorisch ausgegebenes Menschen-und Weltverständnis einem anderen historischen Stoff aufzwingt; das gleiche Abstraktionsverfahren zeigt sich hier an der Rigorosität, mit der Schiller das kom­plexe Bedingungs- und Motivationsfeld politischen Handelns an einem Hof des 16. Jahrhunderts auf das Problem von Ichidentität und Selbstbestimmung der Hauptfiguren reduziert und die vielfältigen politischen und sozialen Themen des Hofes zu einem einzigen Reich des Scheins und des Selbstverlustes verkürzt.

Es genügt allerdings nicht, in diesem gewaltsamen Zugriff Schillers nur die Anpas­sung eines historischen Gegenstandes an die eigene, bürgerliche Weltanschauung zu sehen. “Autonomie des Individuums” wird von ihm nicht einfach konstatiert und einer Zeit, die von ihr so noch nichts wußte, untergeschoben, sie wird viel-

mehr als Problem dargestellt. Es ist das Problem, das die neue Bürgerliche Gesellschaft aufwarf, die alle bisher geltenden moralischen Regeln und sozialen Zusam­menhänge in Frage stellte, das Problem, wie in einer Gesellschaft konkurrieren­der, einzelner Individuen soziales Handeln möglich sei und nicht nur die Wolfs­moral des Fressens und Gefressenwerdens um sich greift, die dann allenfalls durch Staat, Gesetze und Polizei in Schranken zu halten sei.

Das angestrengte Bemühen, aus der Eigenmacht des isolierten Individuums Mora­lität zu begründen, bestimmt Schillers Griff zum Stoff, seine Ausformung der Handlung, seine Konstruktion der Figuren und ihrer Konstellation. Das ist bisher deutlich geworden. Das gleiche Bemühen führt aber auch zur auffallenden Apore­tik des Dramas, dem Widerspruch zwischen seiner glatten und geschlossenen glänzenden Oberfläche und den Brüchen im verdeckten Gefüge darunter. Von diesen Widersprüchen ist nun noch zu sprechen.

Schiller versucht, aus der Selbstbestimmung als “Geschlechtsmerkmal” des Men­schen seine Moralität abzuleiten. Dieser Versuch scheitert. Selbstbestimmung und Moral werden in Maria Stuart nur scheinbar, nur äußerlich zusammengebracht. Tatsächlich fallen sie auseinander. Moral schrumpft auf Verzicht. Wo Maria wirk­lich moralisch handelt, auf dem Weg in den Tod, ist ihre Moral nur negativ: sie tut niemandem mehr weh. Aus allem politischen Handeln jedoch, in dem allererst Moral sich zu bewähren hätte, zieht sie sich heraus. Wirkungen, ihre Welt um sich herum zu humanisieren, gehen von ihr nicht mehr aus. Zweifellos ist ihr Hof humaner als der Hof Elisabeths, aber das war er immer schon, ein Relikt von Marias patriarchalisch-fürsorglichem Lebensstil in ihrer Umgebung. Marias für Schiller so wichtiger Weg zur moralischen Vollendung fügt dem nichts mehr hinzu, zudem wird der Hof gerade durch ihn zerschlagen und zerstreut. Maria handelt moralisch, aber die politische Sphäre bleibt davon unberührt, sie überläßt sie sich selbst.

Elisabeth, auf der anderen Seite, hat einiges zur Humanisierung Englands getan, politischen, sozialen und religiösen Frieden gefördert; sie schlägt sich weidlich mit den Fragen nach richtigem Handeln und seinen Maßstäben herum. Aber gerade sie erscheint als diejenige, deren eigentliche Antriebe nicht moralisch, sondern eigensüchtig und abhängig von Fremdbestimmung sind.

Schillers Versuch, die private, in der Selbstbestimmung des Individuums begrün­dete Moral im Raum öffentlichen, politischen Handelns zu entfalten, führt nur zu unüberbrückbaren Widersprüchen. Am Ende steht das Individuum, dessen Moralität in der Selbstaufopferung mündet, einer von aller Moralität verlassenen Sphäre der Politik und des geschichtlichen Handelns gegenüber. Moral, so ist die Botschaft, ist nur verwirklichbar als subjektbezogener innerlicher Wert. Da ver­dient er unsere höchste Bewunderung. Aber die Welt der Politik und der geschichtlichen Realität ist einer Humanisierung nicht zugänglich, bleibt das Feld blinder, egoistischer Kräfte.

Moral ist nur im Subjekt, hat keine soziale Komponente. Das ist nicht überall so bei Schiller. “Herz”, der Ort der Selbstbestimmung, ist in anderen Dramen zugleich auch der Ort eines zumindest punktuellen sozialen Bezuges. Das Herz ist


der Ort der Liebe zum anderen Menschen — so z. B. in Kabale und Liebe, in Don Carlos, am weitesten ausgeführt bei Max und Thekla in Wallenstein. Im Wallen­Stein geht Schiller sogar noch weiter: der Friedensplan, den Wallenstein im Sinn hat, zielt auf ein neues, humaneres Konzept für die politische Wirklichkeit seiner Zeit überhaupt. (Ähnliches mag Schiller für seine Maria mit dem blind bleibenden Motiv eines neuen Friedens zwischen Engländern und Schotten im Sinn gehabt haben.) Hier greift die Moralität des einzelnen wenigstens in ihrem Anspruch in die politische Sphäre ein, um sie zu humanisieren und zu ordnen, so wie Max und Thekla ein Stück zwischenmenschlicher Möralität verwirklichen. Eine die Wirk­lichkeit umformende Wirkung hat das in beiden Fällen allerdings nicht.

In Maria Stuart ist auch von einem solchen Anspruch nichts zu spüren. “Moral” ist nur noch eine Sache des Menschen mit sich selbst. Das Problem individueller Moralität ist in diesem Stück so hoch getrieben, daß die Frage nach der Verbesse­rung von Welt völlig aus dem Blick gerät. Bert Brecht hat diese idealistische Moral -Schillers im Schlußbild seiner Heiligen Johanna der Schlachthöfe kritisiert und ihr eine aufs Soziale gerichtete Verantwortungsmoral gegenübergestellt (Gesammelte Werke 2. Frankfurt 1967, 5. 780):

 “Sorgt doch, daß ihr die Welt verlassend

Nicht nur gut wart, sondern verlaßt

Eine gute Welt!”

Maria hat, die Welt verlassend, nur dafür gesorgt, daß sie selbst gut war.

 

Quelle: Hans Peter und Martina Herrmann;Grundlagen und Gedanken:Verlag Diesterweg

 

 

  

Maria-Stuart-Dramen

 

Anfang

 

Die Geschichte der Dramenliteratur über die historische Maria Stuart beginnt im 16. Jahrhundert unmittelbar nach ihrem Tode (Shakespeares "Hamlet"?) und weist schon bis zu Schiller zahlreiche Titel auf. Siehe dazu:

James E. Phillips: Images of a Queen. Mary Stuart in Sixteenth-Century Literature. Berkeley/Los Angeles 1964.

Karl Kipka: Maria Stuart im Drama der Weltliteratur vornehmlich des 17. und 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur vergleichenden Literaturgeschichte. Leipzig 1907. (Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte IX.)

Einige Stücke in dieser Tradition könnte Schiller gekannt haben:

Eine bis ins Wörtliche gehende Abhängigkeit einzelner Passagen bei Schiller von Johannes Riemers (1658-1714) Stück über Maria Stuart, "Das Capitul von Staats-Eiffer" (in:

Der Regenten bester Hoff-Meister, oder lustiger Hoff-Parnassus, 1679) glaubt J. Seitz (Das Urbild von Maria Stuart? In: Theater-Courier Nr. 803, 13. 5. 1909, 5. 289 bis 291) feststellen zu können.

Kipka weist auf mehrere Stücke hin: "Es wäre immerhin möglich, daß Schiller außer der >Maria Stuart< von Spieß auch noch die Dramen von Banks und St. John durch Vermittelung der in Weimar wohnenden Engländer Charles Gore und Mellish [...] kennen gelernt hat. Weniger wahrscheinlich ist, daß er Tronchins Stück in die Hand bekam" (5. 303). Daß diese Werke aber dem Publikum der Zeit gegenwärtig sind, zeigen etwa eine Passage aus Körners Brief an Schiller vom 9. Juli 1800 ("Es giebt ein englisches Stück über diesen Stoff von Banks, das ich besitze. Ich konnte mir nicht versagen es anzusehen, fand es aber erbärmlich." NA XXXVIII/I,288) und eine Bemerkung in der Rezension zu Schillers Stück in den "Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen" vom 8. Juni 1801 "Die neueste Englische Marie von St. John haben wir nicht bey der Hand, aber aus Banks >Albion Queen's< ist sicher nichts entlehnt.").

Francois Tronchins (1704-98) anonym aufgeführte "Marie Stuart" von 1734 hat im 4. Akt eine Begegnung der beiden Königinnen. An Schiller erinnert sonst höchstens Leicesters Liebe zu Maria und das Gegenspiel Leicester-Cecil. Im Mittelpunkt des Stücks steht die Norfolk-Verschwörung. Er und Maria sterben am Schluß - historisch unwahr, aber dramatisch wirkungsvoll - zu gleicher Zeit.

Der Engländer John Banks (um 1650 bis um 1710) schreibt seine Tragödie "The Island Queens" 1684, kann sie aber erst zwanzig Jahre später unter dem Titel "The Albion Queens or The Death of Mary Queen of Scots" aufführen lassen. Wieder steht die Norfolk-Verschwörung im Zentrum, wieder gibt es die Begegnung der Königinnen, die diesmal zunächst mit einer Versöhnung endet. Erst als sie sich zum zweitenmal gegenüberstehen, ist Elisabeth gnadenlos, was sie - zu spät - bereut. Aus Banks Stück "The Earl of Essex or The Unhappy Favorite" (1682) kennt Schiller mindestens die Teile, die in Lessings "Hamburgischer Dramaturgie" (54.-56. Stück) diskutiert werden. Dort heißt das Werk "Der unglückliche Liebling oder Graf von Essex".

John St. Johns (1746-93) "Mary Queen of Scots" wird 1789 uraufgeführt. Das Stück - wiederum mit der Norfolk-Handlung - hat mit Schillers Tragödie sicher keine Ahnlichkeit; auffällig ist aber im Hinblick auf die von Schiller konzipierten, aber wieder gestrichenen beiden Ladies Douglas die Gestalt einer Lady Douglas als Marias Vertrauter. Einen treuen Pagen Douglas, der sie 1568 aus Schloß Lochleven befreit hat, gibt es schon bei Banks.

Christian Heinrich Spieß (1755-99), Verfasser populärer Romane und Theaterstücke, bietet seine 1784 veröffentlichte "Marie Stuart" 1783 dem Mannheimer Nationaltheater zur Aufführung an, aber der Bühnenausschuß, dem seit 1. September auch Schiller als Hausdramatiker angehört, lehnt das Stück ab, das dann in Wien aufgeführt wird. Es kann also als sicher gelten, daß Schiller es kennt. Spieß ist offenbar von Banks beeinflußt: Es gibt zwei Begegnungen der Königinnen; die Norfolk-Handlung ist zentral - Norfolk begeht Selbstmord -; der Douglas-Page himmelt Maria an, wird dann aber aus verschmähter Liebe zum Verräter und endet durch Mord.

Keins der genannten Stücke ist im geistigen Rang auch nur annähernd Schiller vergleichbar. Sie bleiben durchweg im Sentimentalen stecken und sind dramatisch ungelenk. Wirklich befruchtend konnten sie auf Schiller wohl nicht wirken.

 

 

 

 

Schillers dramatische Theorie

Anfang

In der zehnjährigen Spanne von der Vollendung von "Don Carlos" (1787) bis zu "Wallenstein" erarbeitet Schiller u. a. mm Zusammenhang mit seiner Lektüre der philosophischen Werke Immanuel Kants (1724-1804) seine dramatische Theorie, die sein Menschenbild, die Rolle der Kunst überhaupt und Wesen und Wirkung der Tragödie klären soll. Während es einerseits kaum angebracht ist, Schillers dann folgende Dramen nur mit der Elle seiner eigenen Theorie zu messen, ist es andererseits ratsam, nicht aus den Augen zu verlieren, daß dramatische Theorie und Praxis für Schiller einen Zusammenhang bilden. Dies gilt allemal für "Maria Stuart":

1. Sie ist nach "Wallenstein" (1799), der sich durch seine immer wachsenden Dimensionen dem geradlinigen theoretischen Zugriff entzieht, das erste Schauspiel Schillers nach der Ausarbeitung der Theorie und immer als das am regelmäßigsten gebaute empfunden worden.

2. Schiller beschäftigt sich während der Arbeit mit Lessings "Hamburgischer Dramaturgie" und mit der Tragödie der Antike. Vor allem Goethes Tagebuchaufzeichnungen dieser Zeit belegen, mit welcher Insistcnz und Kontinuität Goethe und Schiller ihr Gespräch über die moderne und antike Tragödie geführt haben. Die analytische Struktur von "Maria Stuart" und die variierenden Versformen in 111,1 bringt Schiller selbst mit Euripides in Verbindung. Für seine Beschäftigung mit Lessing bildet der Brief an Goethe vom 4. Juni 1799 (NA XXX,53) ein Zeugnis: "Ich lese jetzt in den Stunden, wo wir sonst zusammen kamen, Leßings Dramaturgie die in der That eine sehr geistreiche und belebte Unterhaltung giebt. Es ist doch gar keine Frage, daß Leßing unter allen Deutschen seiner Zeit über das was die Kunst betrift am klarsten gewesen, am schärfsten und zugleich am liberalsten darüber gedacht und das Wesentliche worauf es ankommt am unverücktesten ins Auge gefaßt hat." Der Einfluß von Lessings Theaterbriefen über Grundprobleme der Asthetik, Dramatik, Dramaturgie, Bühnentechnik usw. auf "Maria Stuart" ist in Schillers Freiheit gegenüber dem historischen Stoff, in der regelmäßigen Bauart seines Stücks und im Rückbezug auf die Antike statt auf die klassische französische Interpretation zu spüren. Aber auch ganz konkret wirkt sich die Lektüre aus, denn Lessing bespricht in der "Hamburgischen Dramaturgie" über fünfzehn Kapitel (54.-68. Stück) zwei EssexDramen, wobei Formulierungen fallen, die nahezu wörtlich bei Schiller auftauchen.

3. Die folgenden Auszüge aus Schillers Aufsätzen "Über das Pathetische" (1793) und "Über das Erhabene" (um 1794) stehen in engem Zusammenhang mit "Maria Stuart":

 

 

 

 

 

 

Über das Pathetische

Anfang

Darstellung des Leidens - als bloßen Leidens - ist niemals Zweck der Kunst, aber als Mittel zu ihrem Zweck ist sie derselben äußerst wichtig. Der letzte Zweck der Kunst ist die Darstellung des Übersinnlichen, und die tragische Kunst insbesondere bewerkstelligt dieses dadurch, daß sie uns die moralische Independenz von Naturgesetzen im Zustand des Affekts versinnlicht. Nur der Widerstand, den es gegen die Gewalt der Gefühle äußert, macht das freie Prinzip in uns kenntlich; der Widerstand aber kann nur nach der Stärke des Angriffs geschätzt werden. Soll sich also die Intelligenz im Menschen als eine von der Natur unabhängige Kraft offenbaren, so muß die Natur ihre ganze Macht erst vor unsern Augen bewiesen haben. Das Sinnen-wesen muß tief und heftig leiden; Pathos muß da sein, damit das Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kundtun und sich handelnd darstellen könne. [...1

Man gelangt also zur Darstellung der moralischen Freiheit nur durch die lebendigste Darstellung der leidenden Natur, und der tragische Held muß sich erst als empfindcndes Wesen bei uns legitimiert haben, ehe wir ihm als Vernunft-wesen huldigen und an seine Seelenstärke glauben.

Pathos ist also die erste und unnachlaßliche Forderung an den tragischen Künstler, und es ist ihm erlaubt, die Darstellung des Leidens so weit zu treiben, als es, ohne Nachteil für seinen letzten Zweck, ohne Unterdrückung der moralischen Freiheit, geschehen kann. Er muß gleichsam seinem Helden oder seinem Leser die ganze volle Ladung des Leidens geben, weil es sonst immer problematisch bleibt, ob sein Widerstand gegen dasselbe eine Gemütshandlung, etwas Positives, und nicht vielmehr bloß etwas Negatives und ein Mangel ist. ...

Das erste Gesetz der tragischen Kunst war Darstellung der leidenden Natur. Das zweite ist Darstellung des moralischen Widerstandes gegen das Leiden. [...]

Der, welcher einem Schmerz zum Raube wird, ist bloß ein gequältes Tier, kein leidender Mensch mehr; denn von dem Menschen wird schlechterdings ein moralischer Widerstand gegen das Leiden gefordert, durch den allein sich das Prinzip der Freiheit in ihm, die Intelligenz, kenntlich machen kann. [...]

Der Kampf mit dem Affekt hingegen ist ein Kampf mit der Sinnlichkeit und setzt also etwas voraus, was von der Sinnlichkeit unterschieden ist. Gegen das Objekt, das ihn leiden macht, kann sich der Mensch mit Hilfe seines Verstandes und seiner Muskelkräfte wehren; gegen das Leiden selbst hat er keine andre Waffen als Ideen der Vernunft.

Diese müssen also in der Darstellung vorkommen, oder durch sie erweckt werden, wo Pathos stattfinden soll. Nun sind aber Ideen im eigentlichen Sinn und positiv nicht darzustellen, weil ihnen nichts in der Anschauung entsprechen kann. Aber negativ und indirekt sind sie allerdings darzustellen, wenn in der Anschauung etwas gegeben wird, wozu wir die Bedingungen in der Natur vergebens aufsuchen. Jede Erscheinung, deren letzter Grund aus der Sinnenwelt nicht kann abgeleitet werden, ist eine indirekte Darstellung des Übersinnlichen.

Wie gelangt nun die Kunst dazu, etwas vorzustellen, was über die Natur ist, ohne sich übernatürlicher Mittel zu bedienen? [...]

Dadurch nämlich, daß alle bloß der Natur gehorchende Teile, über welche der Wille entweder gar niemals oder wenigstens unter gewissen Umständen nicht disponieren kann, die Gegenwart des Leidens verraten - diejenigen Teile aber, welche der blinden Gewalt des Instinkts entzogen sind und dem Naturgesetz nicht notwendig gehorchen, keine oder nur eine geringe Spur dieses Leidens zeigen, also in einem gewissen Grad frei erscheinen. An dieser Disharmonie nun zwischen denjenigen Zügen, die der animalischen Natur nach dem Gesetz der Notwendigkeit eingeprägt werden, und zwischen denen, die der selbsttätige Geist bestimmt, erkennt man die Gegenwart eines übersinnlichen Prinzips im Menschen, welches den Wirkungen der Natur eine Grenze setzen kann und sich also eben dadurch als von derselben unterschieden kenntlich macht. ...

Zum Erhabenen der Handlung wird erfordert, daß das Leiden eines Menschen auf seine moralische Beschaffenheit nicht nur keinen Einfluß habe, sondern vielmehr umgekehrt das Werk seines moralischen Charakters sei. Dies kann auf zweierlei Weise sein. Entweder mittelbar und nach dem Gesetz der Freiheit, wenn er aus Achtung für irgendeine Pflicht das Leiden erwählt. Die Vorstellung der Pflicht bestimmt ihn in diesem Falle als Motiv, und sein Leiden ist eine Willenshandlung. Oder unmittelbar und nach dem Gesetz der Notwendigkeit, wenn er eine übertretene Pflicht moralisch büßt. Die Vorstellung der Pflicht bestimmt ihn in diesem Falle als Macht, und sein Leiden ist bloß eine Wirkung. Ein Beispiel des ersten gibt uns Regulus, wenn er, um Wort zu halten, sich der Rachbegier der Karthaginienser ausliefert; zu einem Beispiel des zweiten würde er uns des Menschen aufheben. Nimmermehr kann er das Wesen sein, welches will, wenn es auch nur einen Fall gibt, wo er schlechterdings muß, was er nicht will. Dieses einzige Schreckliche, was er nur muß und nicht will, wird wie ein Gespenst ihn begleiten und ihn, wie auch wirklich bei den mehresten Menschen der Fall ist, den blinden Schrecknissen der Phantasie zur Beute überliefern; seine gerühmte Freiheit ist absolut nichts, wenn er auch nur in einem einzigen Punkte gebunden ist. Die Kultur soll den Menschen in Freiheit setzen und ihm dazu behilflich sein, seinen ganzen Begriff zu erfüllen. Sie soll ihn also fähig machen, seinen Willen zu behaupten, denn der Mensch ist das Wesen, welches will.

Dies ist auf zweierlei Weise möglich. Entweder realistisch, wenn der Mensch der Gewalt Gewalt entgegensetzt, wenn er als Natur die Natur beherrschet; oder idealistisch, wenn er aus der Natur heraustritt und so, in Rücksicht auf sich, den Begriff der Gewalt vernichtet. Was ihm zu dem ersten verhilft, heißt physische Kultur. Der Mensch bildet seinen Verstand und seine sinnlichen Kräfte aus, um die Naturkräfte nach ihren eigenen Gesetzen entweder zu Werkzeugen seines Willens zu machen oder sich vor ihren Wirkungen, die er nicht lenken kann, in Sicherheit zu setzen. Aber die Kräfte der Natur lassen sich nur bis auf einen gewissen Punkt beherrschen oder abwehren; über diesen Punkt hinaus entziehen sie sich der Macht des Menschen und unterwerfen ihn der ihrigen.

Jetzt also wäre es um seine Freiheit getan, wenn er keiner andern als physischen Kultur fähig wäre. Er soll aber ohne Ausnahme Mensch sein, also in keinem Fall etwas gegen seinen Willen erleiden. Kann er also den physischen Kräften keine verhältnismäßige physische Kraft mehr entgegensetzen, so bleibt ihm, um keine Gewalt zu erleiden, nichts anders übrig als: ein Verhältnis, welches ihm so nachteilig ist, ganz und gar aufzuheben und eine Gewalt, die er der Tat nach erleiden muß, dem Begriff nach zu vernichten. Eine Gewalt dem Begriffe nach vernichten, heißt aber nichts anders, als sich derselben freiwillig unterwerfen. Die Kultur, die ihn dazu geschickt macht, heißt die moralische. ~...]

Zwei Genien sind es, die uns die Natur zu Begleitern durchs Leben gab. Der eine, gesellig und hold, verkürzt uns durch sein munteres Spiel die mühvolle Reise, macht uns die Fesseln der Notwendigkeit leicht und führt uns unter Freude und Scherz bis an die gefährlichen Stellen, wo wir als reine Geister handeln und alles Körperliche ablegen müssen, bis zur Erkenntnis der Wahrheit und zur Ausübung der Pflicht. Hier verläßt er uns, denn nur die Sinnenwelt ist sein Gebiet, über diese hinaus kann ihn sein irdischer Flügel nicht tragen. Aber jetzt tritt der andere hinzu, ernst und schweigend, und mit starkem Arm trägt er uns über die schwindligte Tiefe.

In dem ersten dieser Genien erkennet man das Gefühl des Schönen, in dem zweiten das Gefühl des Erhabenen. Zwar ist schon das Schöne ein Ausdruck der Freiheit, aber nicht derjenigen, welche uns über die Macht der Natur erhebt und von allem körperlichen Einfluß entbindet, sondern derjenigen, welche wir innerhalb der Natur als Menschen genießen. Wir fühlen uns frei bei der Schönheit, weil die sinnlichen Triebe mit dem Gesetz der Vernunft harmonieren; wir fühlen uns frei beim Erhabenen, weil die sinnlichen Triebe auf die Gesetzgebung der Vernunft keinen Einfluß haben, weil der Geist hier handelt, als ob er unter keinen andern als seinen eigenen Gesetzen stünde. ... .1

Gern unterwerfen wir der physischen Notwendigkeit unser Wohlsein und unser Dasein, denn das erinnert uns eben, daß sie über unsre Grundsätze nicht zu gebieten hat. Der Mensch ist in ihrer Hand, aber des Menschen Wille ist in der seinigen. [. . .1

Bei dem Schönen stimmen Vernunft und Sinnlichkeit ~zusammen, und nur um dieser Zusammenstimmung willen hat es Reiz für uns. Durch die Schönheit allein würden wir also ewig nie erfahren, daß wir bestimmt und fähig sind, uns als reine Intelligenzen zu beweisen. Beim Erhabenen hingegen stimmen Vernunft und Sinnlichkeit nicht zusammen, und eben in diesem Widerspruch zwischen beiden liegt der Zauber, womit es unser Gemüt ergreift. Der physische und der moralische Mensch werden hier aufs schärfste voneinander geschieden; denn gerade bei solchen Gegenständen, wo der erste nur seine Schranken empfindet, macht der andere die Erfahrung seiner Kraft und wird durch eben das unendlich erhoben, was den andern zu Boden drückt.

Ein Mensch, will ich annehmen, soll alle die Tugenden besitzen, deren Vereinigung den schönen Charakter ausmacht. Er soll in der Ausübung der Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Mäßigkeit, Standhaftigkeit und Treue seine Wollust finden; alle Pflichten, deren Befolgung ihm die Umstände nahelegen, sollen ihm zum leichten Spiele werden, und das Glück soll ihm keine Handlung schwermachen, wozu nur immer sein menschenfreundliches Herz ihn auffordern mag. Wem wird dieser schöne Einklang der natürlichen Triebe mit den Vorschriften der Vernunft nicht entzückend sein, und wer sich enthalten können, einen solchen Menschen zu lieben? Aber können wir uns wohl, bei aller Zuneigung zu demselben, versichert halten, daß er wirklich ein Tugendhafter ist, und daß es überhaupt eine Tugend gibt? Wenn es dieser Mensch auch bloß auf angenehme Empfindungen angelegt hätte, so könnte er, ohne ein Tor zu sein, schlechterdings nicht anders handeln, und er müßte seinen eignen Vorteil hassen, wenn er lasterhaft sein wollte. Es kann sein, daß die Quelle seiner Handlungen rein ist, aber das muß er mit seinem eignen Herzen ausmachen: wir sehen nichts davon. Wir sehen ihn nicht mehr tun, als auch der bloß kluge Mann tun müßte, der das Vergnügen zu seinem Gott macht. Die Sinnenwelt also erklärt das ganze Phänomen seiner Tugend, und wir haben gar nicht nötig, uns jenseits derselben nach einem Grund davon umzusehen. [...]

Das höchste Ideal, wornach wir ringen, ist, mit der physischen Welt, als der Bewahrerin unserer Glückseligkeit, in gutem Vernehmen zu bleiben, ohne darum genötigt zu sein, mit der moralischen zu brechen, die unsre Würde bestimmt. Nun geht es aber bekanntermaßen nicht immer an, beiden Herren zu dienen, und wenn auch (ein fast unmöglicher Fall) die Pflicht mit dem Bedürfnisse nie in Streit geraten sollte, so geht doch die Naturnotwendigkeit keinen Vertrag mit dem Menschen ein, und weder seine Kraft noch seine Geschicklichkeit kann ihn gegen die Tücke der Verhängnisse sicherstellen. Wohl ihm also, wenn er gelernt hat, zu ertragen, was er nicht ändern kann, und preiszugeben mit Würde, was er nicht retten kann! Fälle können eintreten, wo das Schicksal alle Außeiawerke ersteigt, auf die er seine Sicherheit gründete, und ihm nichts weiter übrigbleibt, als sich in die heilige Freiheit der Geister zu flüchten - wo es kein andres Mittel gibt, den Lebenstrieb zu beruhigen, als es zu wollen - und kein andres Mittel, der Macht der Natur zu widerstehen, als ihr zuvorzukommen und durch eine freie Aufhebung alles sinnlichen Interesse, ehe noch eine physische Macht es tut, sich moralisch zu entleiben. ... .1

Die Fähigkeit, das Erhabene zu empfinden, ist also eine der herrlichsten Anlagen in der Menschennatur, die sowohl wegen ihres Ursprungs aus dem selbständigen Denk- und Willensvermögen unsre Achtung, als wegen ihres Einflusses auf den moralischen Menschen die vollkommenste Entwickelung verdient. Das Schöne macht sich bloß verdient um den Menschen, das Erhabene um den reinen Dämon in ihm; und weil es einmal unsre Bestimmung ist, auch bei allen sinnlichen Schranken uns nach dem Gesetzbuch reiner Geister zu richten, so muß das Erhabene zu dem Schönen hinzukommen, um die ästhetische Erziehung zu einem vollständigen Ganzen zu machen und die Empfindungsfähigkeit des menschlichen Herzens nach dem ganzen Umfang unsrer Bestimmung, und also auch über die Sinnenwelt hinaus, zu erweitern.

Ohne das Schöne würde zwischen unsrer Naturbestimmung und unsrer Vernunftbestimmung ein immerwährender Streit sein. Über dem Bestreben, unserm Geisterberuf Genüge zu leisten, würden wir unsre Menschheit versäumen und, alle Augenblicke zum Aufbruch aus der Sinnenwelt gefaßt, in dieser uns einmal angewiesenen Sphäre des Handelns beständig Fremdlinge bleiben. Ohne das Erhabene würde uns die Schönheit unsrer Würde vergessen machen. In der Erschlaffung eines ununterbrochenen Genusses würden wir die Rüstigkeit des Charakters einbüßen und, an diese zufällige Form des Daseins unauflösbar gefesselt, unsre unveränderliche Bestimmung und unser wahres Vaterland aus den Augen verlieren. Nur wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet und unsre Empfänglichkeit für beides in gleichem Maß ausgebildet worden ist, sind wir vollendete Bürger der Natur, ohne deswegen ihre Sklaven zu sein und ohne unser Bürgerrecht in der intelligibeln Welt zu verscherzen. [. . .1

Wenn die Natur in ihren schönen organischen Bildungen entweder durch die mangelhafte Individualität des Stoffes oder durch Einwirkung heterogener Kräfte Gewalt erleidet, oder wenn sie, in ihren großen und pathetischen Szenen, Gewalt ausübt und als eine Macht auf den Menschen wirkt, da sie doch bloß als Objekt der freien Betrachtung ästhetisch werden kann, so ist ihre Nachahmerin, die bildende Kunst, völlig frei, weil sie von ihrem Gegenstand alle zufällige Schranken absondert, und läßt auch das Gemüt des Betrachters frei, weil sie nur den Schein und nicht die Wirklichkeit nachahmt. Da aber der ganze Zauber des Erhabenen und Schönen nur in dem Schein und nicht in dem Inhalt liegt, so hat die Kunst alle Vorteile der Natur, ohne ihre Fesseln mit ihr zu teilen.

Ein kurzes Resümee seiner Auffassung vom Verhältnis von Tragödie und Geschichte gibt Schiller jeweils in "Über die tragische Kunst" (1792) und in "Über das Pathetische":

"Die Tragödie ist viertens poetische Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung, und dadurch wird sie der historischen entgegengesetzt. Das letztere würde sie sein, wenn sie einen historischen Zweck verfolgte, wenn sie darauf ausginge, von geschehenen Dingen und von der Art ihres Geschehens zu unterrichten. In diesem Falle müßte sie sich streng an historische Richtigkeit halten, weil sie einzig nur durch treue Darstellung des wirklich Geschehenen ihre Absicht erreichte. Aber die Tragödie hat einen poetischen Zweck, d. i. sie stellt eine Handlung dar, um zu rühren und durch Rührung zu ergötzen. Behandelt sie also einen gegebenen Stoff nach diesem ihrem Zwecke, so wird sie eben dadurch in der Nachahmung frei; sie erhält Macht, ja Verbindlichkeit, die historische Wahrheit den Gesetzen der Dichtkunst unterzuordnen und den gegebenen Stoff nach ihrem Bedürfnisse zu bearbeiten. Da sie aber ihren Zweck, die Rührung, nur unter der Bedingung der höchsten Übereinstimmung mit den Gesetzen der Natur zu erreichen imstande ist, so steht sie, ihrer historischen Freiheit unbeschadet, unter dem strengen Gesetz der Naturwahrheit, welche man im Gegensatz von der historischen die poetische Wahrheit nennt. So läßt sich begreifen, wie bei strenger Beobachtung der historischen Wahrheit nicht selten die poetische leiden, und umgekehrt bei grober Verletzung der historischen die poetische nur um so mehr gewinnen kann. Da der tragische Dichter, so wie überhaupt jeder Dichter, nur unter dem Gesetz der poetischen Wahrheit steht, so kann die gewissenhafteste Beobachtung der historischen ihn nie von seiner Dichterpflicht lossprechen, nie einer Übertretung der poetischen Wahrheit, nie einem Mangel des Interesse zur Entschuldigung gereichen. Es verrät daher sehr beschränkte Begriffe von der tragischen Kunst, ja von der Dichtkunst überhaupt, den Tragödiendichter vor das Tribunal der Geschichte zu ziehen und Unterricht von demjenigen zu fordern, der sich schon vermöge seines Namens bloß zu Rührung und Ergötzung verbindlich macht. Sogar dann, wenn sich der Dichter selbst durch eine ängstliche Unterwürfigkeit gegen historische Wahrheit seines Künstler-vorrechts begeben und der Geschichte eine Gerichtsbarkeit über sein Produkt stillschweigend eingeräumt haben sollte, fordert die Kunst ihn mit allem Rechte vor ihren Richterstuhl. [...]

Noch mehr wird man sich davon überzeugen, wenn man nachdenkt, wie wenig die poetische Kraft des Eindrucks, den sittliche Charaktere oder Handlungen auf uns machen, von ihrer historischen Realität abhängt. Unser Wohlgefallen an idealischen Charakteren verliert nichts durch die Erinnerung, daß sie poetische Fiktionen sind, denn es ist die poetische, nicht die historische Wahrheit, auf welche alle ästhetische Wirkung sich gründet. Die poetische Wahrheit besteht aber nicht darin, daß etwas wirklich geschehen ist, sondern darin, daß es geschehen konnte, also in der innern Möglichkeit der Sache. Die ästhetische Kraft muß also schon in der vorgestellten Möglichkeit liegen.

Selbst an wirklichen Begebenheiten historischer Personen ist nicht die Existenz, sondern das durch die Existenz kund gewordene Vermögen das Poetische. Der Umstand, daß diese Personen wirklich lebten und daß diese Begebenheiten wirklich erfolgten, kann zwar sehr oft unser Vergnügen vermehren, aber mit einem fremdartigen Zusatz, der dem poetischen Eindruck vielmehr nachteilig als beförderlich ist. Man hat lange geglaubt, der Dichtkunst unsers Vaterlands einen Dienst zu erweisen, wenn man den Dichtern Nationalgegenstände zur Bearbeitung empfahl. Dadurch, hieß es, wurde die griechische Poesie so bemächtigend für das Herz, weil sie einheimische Szenen malte und einheimische Taten verewigte. Es ist nicht zu leugnen, daß die Poesie der Alten, dieses Umstandes halber, Wirkungen leistete, deren die neuere Poesie sich nicht rühmen kann - aber gehörten diese Wirkungen der Kunst und dem Dichter? Wehe dem griechischen Kunstgenie, wenn es vor dem Genius der Neuem nichts weiter als diesen zufälligen Vorteil voraus hätte, und wehe dem griechischen Kunstgeschmack, wenn er durch diese historischen Beziehungen in den Werken seiner Dichter erst hätte gewonnen werden müssen! Nur ein barbarischer Geschmack braucht den Stachel des Privatinteresse, um zu der Schönheit hingelockt zu werden, und nur der Stümper borgt von dem Stoffe eine Kraft, die er in die Form zu legen verzweifelt. Die Poesie soll ihren Weg nicht durch die kalte Region des Gedächtnisses nehmen, soll nie die Gelehrsamkeit zu ihrer Auslegerin, nie den Eigennutz zu ihrem Fürsprecher machen. Sie soll das Herz treffen, weil sie aus dem Herzen floß, und nicht auf den Staatsbürger in dem Menschen, sondern auf den Menschen in dem Staatsbürger zielen."

  

Über das Erhabene

 Anfang

 "Kein Mensch muß müssen" sagt der Jude Nathan zum Derwisch, und dieses Wort ist in einem weiteren Umfange wahr, als man demselben vielleicht einräumen möchte. Der Wille ist der Geschlechtscharakter des Menschen, und die Vernunft selbst ist nur die ewige Regel desselben. Vernünftig handelt die ganze Natur; sein Prärogativ ist bloß, daß er mit Bewußtsein und Willen vernünftig handelt. Alle andere Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will.

Eben deswegen ist des Menschen nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns antut, macht uns nichts Geringeres als die Menschheit streitig; wer sie feigerweise erleidet, wirft seine Menschheit hinweg. Aber dieser Anspruch auf absolute Befreiung von allem, was Gewalt ist, scheint ein Wesen vorauszusetzen, welches Macht genug besitzt, jede andere Macht von sich abzutreiben. Findet er sich in einem Wesen, welches im Reich der Kräfte nicht den obersten Rang behauptet, so entsteht daraus ein unglücklicher Widerspruch zwischen dem Trieb und dem Vermögen.

In diesem Falle befindet sich der Mensch. Umgeben von zahllosen Kräften, die alle ihm überlegen sind und den Meister über ihn spielen, macht er durch seine Natur Anspruch, von keiner Gewalt zu erleiden. Durch seinen Verstand zwar steigert er künstlicherweise seine natürlichen Kräfte, und bis auf einen gewissen Punkt gelingt es ihm wirklich, physisch über alles Physische Herr zu werden. Gegen alles, sagt das Sprichwort, gibt es Mittel, nur nicht gegen den Tod. Aber diese einzige Ausnahme, wenn sie das wirklich im strengsten Sinne ist, würde den ganzen Begriff dienen, wenn er sein Wort gebrochen und das Bewußtsein dieser Schuld ihn elend gemacht hätte. In beiden Fällen hat das Leiden einen moralischen Grund, nur mit dem Unterschied, daß er uns in dem ersten Fall seinen moralischen Charakter, in dem andern bloß seine Bestimmung dazu zeigt. In dem ersten Fall erscheint er als eine moralisch große Person, in dem zweiten bloß als ein ästhetisch großer Gegenstand. [...]

 Quelle:  Reclams Erläuterungen und Dokumente

 

 

 

 

Sprachgestaltung

Anfang

 „Trotz des Strebens nach Adel und Schönheit der Sprache sind die charak­teristischen Unterschiede, wie die Charaktere und Situationen sie fordern, nicht verwischt. Wie scharf hebt sich z. B. Maria als Königin und Weib durch ihre Rede schon von den Männern ab in ihrer großen Unterhandlung mit Burleigh und Paulet. Während dem redegewaltigen Diplomaten bei der Er­örterung von Rechts- und Staatsbegriffen eine ganz einfache, bildlose, sach­lich scharfe Sprache geliehen wird, darf Mortimers Sinnlichkeit und Kunst-begeisterung in den glühendsten Farben schwelgen. Und so wird eine durch-gehende Vergleichung bezeichnende Unterschiede entdecken. Ein besonderes Mittel der Stimmungsmalerei und Seelenschilderung wendet Schiller hier zum erstenmal an durch Einführung lyrischer Silbenmaße in das Drama: in lyri­schen Strophen strömt die Empfindung aus dem innersten Grunde eines bis in die Tiefe bebenden Herzens, als Maria einmal wieder aufatmen darf in der freien Himmelsluft. Man hat hierin, sowie in der Schilderung Roms und des päpstlichen Hochamts durch Mortimer, in seiner Verherrlichung der katholi­schen Kirchenkunst und in der Umsetzung katholischer Malerei in Dichtung einen ‚Tribut Schillers an die romantische Zeitrichtung‘ erkennen wollen. Diesem ‚Genius‘ völlig zu entgehen, war auch nach Goethes Meinung fur sie als ‚Moderne‘ nicht möglich. Und in der Tat, Schiller hat ihm gehuldigt, in seiner Weise, selbständig und dem Drange der eigenen Natur, nicht fremden Anregungen folgend.« (Karl Berger)

 

 

 

Dramatische Bewegung und symbolische Darstellung

Anfang

„Die äußere Bewegung geht von den Mächten aus, die um Marias Leben oder um ihren Tod kämpfen. Die um ihr Leben kämpfen, bewirken ihren Tod. Die um ihren Tod kämpfen, bewirken ihr höheres Leben. Ihre Gegnerin ist Elisabeth, ein Typus des Weibes wie sie, aber nicht des lockenden und verfüh­renden Weibes, sondern des Weibes, das von der Natur und dem Leben um den Genuß der Weiblichkeit gebracht ist. Das besonders erregt ihren Haß ge­gen Maria, der nur mit ihrem Tode enden kann. Es ist der Kampf des reiz­losen, aber mächtigen Weibes mit dem schönen, aber ohnmächtigen Weib.

Dieser menschliche Kampf wird noch von anderen Motiven unterstützt, welche in die Weite des geschichtlichen Lebens hineinführen. Denn ein ge­schichtliches Drama soll auch den Geist der Geschichte zur Erscheinung brin­gen. Mit dem Haß gegen Maria und der Eif~sucht um Lesters willen eint sich die Notwendigkeit des Staates, welche den Tod Marias verlangt, und die Notwendigkeit der protestantischen Religion, welche den alten Glauben zu vernichten hat. Reformation und Gegenreformation, Staat und Persönlich­keit bringen in diesem Kampf der Frauen ihren Kampf zum Austrag.

Diese Mächte verlangten alle eine sinnliche Gestaltung, und hier wendete nun Schiller seine neue Kunst der symbolischen Darstellung an, welche die Masse in einem Repräsentanten zur ästhetischen Erscheinung bringt. Der Ge­danke der Staatsnotwendigkeit ist in Burleigh lebendig geworden. Alle menschliche Schwachheit verkörpert sich in Lester. Der Gedanke des Rechtes tritt mit Talbot in dieses Drama ein. Diese Gestalten aber vertreten schließ­lich doch nur die Mächte, die in Elisabeths Innerem kämpfen: Weiblichkeit, Staatsgefühl, Rechtsgefühl. Die Mannigfaltigkeit ihres Kreises gewinnt Ein­heit in ihrer Gestalt.

Ebenso ist es auf der anderen Seite. Da tritt in Mortimer die sinnliche Ver­lockung vor Augen, die von Maria ausgeht, ohne daß sie es will, und die ihr Schicksal ist, und gleichzeitig die Macht des Katholizismus, die gegen das protestantische England kämpft. Da zeigt sich in der Amme, daß sie doch auch Zärtlichkeit zu erwecken vermag, in dem Haushofmeister die Reinheit des Glaubens. Auch diese Gestalten also fassen sich in Maria selbst zur Ein­heit zusammen. Es ist schließlich doch nur der Kampf von Elisabeth und Maria, der sich in dieser Tragödie abspielt, und die Begegnung der Königin­nen ist nur die letzte Individualisierung, die letzte Steigerung in dem Kampfe der beiden Welten, die sich in diesen Frauen repräsentieren. Solche Einfach­heit bei aller Fülle hat die symbolische Darstellung ermöglicht. Schon das Wallenstein-Drama hatte die Armee in typischen Vertretern, diese wieder in den Generalen und diese endlich in Wallensteins Gestalt zusammengefaßt und so die Einheit in die Mannigfaltigkeit gebracht. Aber damals hatte es Schiller noch nicht gewagt, auch noch das feindliche Lager, den kaiserlichen Hof, direkt in den Kreis der Darstellung zu ziehen. Jetzt gelang es ihm auf ganz einfache Weise durch die symbolische Darstellung, die beiden feindlichen Lager darzustellen.“ (Fritz Strich)


 

Elisabeth

Anfang

„Bei dem Charakter der Elisabeth hat sich Schiller mehr, als er ursprüng­lich vorhatte, von dem historischen freigemacht. Es war die Möglichkeit ge­geben, diese Figur nicht schlechthin als Theaterbösewicht zu behandeln, son­dern unter den Zwang der Notwendigkeit zu stellen. Nicht als ob Schiller alle die Züge, die seine ‚königliche Heuchlerin‘ charakterisieren, erfunden hätte; ihre Unentschlossenheit, ihre verlogene Zurückhaltung, ihre eifersüch­tige Eitelkeit, ja sogar den Verdacht geheimer Lasterhaftigkeit fand er in den Quellen.., aber er verfügte über das Mittel, mit einer Kunst, die man bio­graphische Charakteristik genannt hat, diese Züge zu motivieren, und zwar aus der trüben Jugend der Elisabeth heraus, aus den Gefahren, denen sie da­mals nur durch äußerste Vorsicht und kluge Verstellung hatte entgehen kön­nen, und aus der haltlosen Stellung des Weibes auf dem Throne. Dieser Ge­danke tritt an mehreren Stellen deutlich hervor und erhebt sich in dem großen Monolog zu ergreifender Tragik; aber im ganzen wird er verdunkelt durch den gefühlsmäßig verschärften Kontrast zwischen Elisabeth und ihrer Gegnerin. Schon in den früheren Stücken, im ‚Fiesco‘ wie in ‚Kabale und Liebe‘ und im ‚Don Carlos‘, war es Schillers Art gewesen, zwei Frauen-charaktere kontrastierend zu entwickeln, aber nie ist dadurch in solchem Maße die Führung der Handlung beeinflußt worden wie hier. Wenn den offen eingestandenen Liebessünden Marias die geheimen Laster der Elisabeth gegenüberstehen, so dient die Gestalt Mortimers dazu, diesen Gegensatz in Handlung umzusetzen: Elisabeth stellt für einen Meuchelmord den Preis in Aussicht, um den Maria ihr eigenes Leben nicht erkaufen will. Und wenn Maria beteuern kann, sie sei nicht nur mit dem Wort, sondern auch mit dem Willen unschuldig an dem Verbrechen gegen Elisabeth, so wird damit der Gegnerin das Urteil gesprochen, die gerade nur das Wort zu vermeiden sucht. Je mehr im Laufe der Handlung Marias Waagschale sich hebt, desto mehr senkt sich die der Elisabeth; Maria beginnt als schwere Sünderin und endet in königlicher Hoheit; Elisabeth tritt auf im vollen Glanz ihrer Herrschaft und steht zuletzt da als das schwache, feige, unselbständige Weib. Zwar er­niedrigt sie sich schon im zweiten Aufzug in kaum erträglicher Weise, aber der entscheidende Moment, der sie jeder Sympathie beraubt, liegt im dritten Aufzug, wo sie die Gelegenheit, das königliche Recht der Gnade auszuüben, verschmäht.“ (Julius Petersen)

 

 

 

 

 

Maria ist das Leben

Anfang

„Wie das Leben selber soll sie uns gegenüberstehen. Das Leben setzt Schil­ler in Gegensatz zur Gestalt oder Idee wie das Physische zum Moralischen, da‘s Sinnliche zum Geistigen. Marias Dasein war eine Existenz des Verlangens und des Genusses. Dies ist, was Schiller unter ‚Leben‘ begreift, die ewige Ver­lockung und das Verlangen der Sinne, das Begehren, das sich im Genuß ver­zehrt, das Genießen, das in neue Begierde umschlägt. Das Leben ist die ewige Eva, die uns den Apfel reicht. Schiller zeigt in Maria das Leben, wo es am‘ süßesten, wo es am meisten Leben ist, in einem schönen, betörenden und ge­währenden Weibe. Denn das Weib ist der Stimulus des Lebens. Die Gestalt, der Königin vertieft sich fast zur Bedeutung des Symbols. Noch ei~imal geht die große Verlockung des Lebens von ihr aus und verstrickt widerstrahlend sie selbst, — so kommt aus der Lockung des Lebens selber der Tod. Das viel bedeutende Wort in dem Brief an Goethe erklärt sich nun: daß Schiller seine Maria immer als ein physisches Wesen halte, daß sie mehr eine allgemeine tiefe Rührung als ein persönliches und individuelles Mitgefühl hervorrufen soll. Nicht die Königin von Schottland ist es, die uns beschäftigt, das geschicht­liche Individuum, sondern in ihr das Weib und in dem Weibe das Leben.

Soll uns Maria Stuart mit einem andern Eindruck entlassen als dem qual-voll peinlichen der physischen Zernichtung, dann müssen wir schließen mit dem Bilde der gefaßten Seele, die sich in ihrer reinen Geistigkeit gefunden hat. Damit liegt das Endglied der Entwicklung fest, aber mit dem Endglied zugleich auch das ganze Gesetz ihres Fortschreitens. Wir beginnen mit einem vorläufigen Zustand gleichsam erzwungener Resignation. Nun ergeben sich die drei Stadien mit innerlicher Notwendigkeit: noch einmal erwachen die Sinne, das Gaukelbild eines neuen Glückes erscheint. Dann brechen die Affekte los in schrankenloser Lebensfreude. Das ist die Höhe, das Gespräch der Königinnen; aber dieser Überfluß des Lebens ist schon der Tod. Nun kommt die unwiderrufliche Entscheidung. Da faßt sich der reine Geist in sich selber, — als die geistige Überwinderin sehen wir Maria im letzten Akte vom Leben scheiden.“ (Eugen Kühnemann)

 

 

 

 

Leicester — Mortimer — Burleigh — Shrewsbury

Anfang

„Für das ungemein geschickte Ineinanderschlingen von Motiven, die sich ursprünglich ganz unabhängig darboten und sich nun auf das notwendigste wechselseitig bedingen, war vor allem die Figur des Leicester wertvoll. Der glatte Höfling, den Schiller der historischen Figur gegenüber noch gehoben hat, ist in seiner hin und her treibenden Charakterlosigkeit, die sich durch jede neue Wendung bestimmen läßt und sie zu nutzen weiß, von mehr Ein­fluß auf den Gang der Handlung als sein zielbewußter Rivale Burleigh.

In Burleighs Charakter wie in dem Mortimers sind ‘symbolisch die beiden Mächte repräsentiert, die ihren Kampf bereits ausgespielt haben. Denn wenn in der erfundenen Figur Mortimers alle Versuche des katholischen Fanatismus zu Marias Befreiung noch3mals aufleben, so kommen diese Bemühungen für den Ausgang der Handlung doch nicht ernstlich in Betracht. Im übrigen soll man, weil es ihm gelang, dem irren Schwärmer echte Töne hinreißender Lei­denschaft zu geben, dem Dichter selbst keine katholisierenden Neigungen zu­sprechen. Die Tendenzen seiner Zeit, die in Wackenroders ‚Herzensergießun­gen eines kunstliebenden Klosterbruders‘ (1797) von dem Kultus der italie­nischen Madonnenmalerei ausgingen, konnte sich Schiller doch nur äußerlich zu eigen machen.

Daß Burleigh ebenso wie Mortimer die Aufgabe hat, Ereignisse, die bereits vor Beginn des Stückes liegen, in der Handlung zu spiegeln, zeigt der siebente Auftritt des ersten Aufzuges, wo der ganze Prozeß noch einmal zwischen Maria und ihrem Hauptgegner zur Verhandlung kommt. In Burleigh per­sonifiziert sich die englisch-protestantische Politik, die ihren Sieg bereits errungen hat; wenn während der ganzen Handlung der Einfluß des Staats­mannes zurückgedrängt zu sein scheint, so braucht er doch zuletzt nur zuzu­greifen, als die reife Frucht sich darbietet.

Ein durchaus symbolischer Charakter ist endlich Shrewsbury, der sich weit von der historischen Figur dieses Namens entfernt. Der Greis ist in antikem Sinne gedacht, und nach einer feinen Bemerkung Körners vertritt er gleich­sam die Stelle des griechischen Chors. Er steht ganz außerhalb der Handlung und ist der richtende Zeuge, dem es zuletzt zufällt, das Urteil über Elisabeth zu sprechen.“ (Julius Petersen)

 

 

 

 

Die Frauen und die Politik

 Anfang

 Es ist die Tragik Elisabeths und Marias, daß sie durch Geburt und schicksalhafte Verknüpfung der Verhältnisse ein Amt ausüben müssen, das sie, weil es ein ihrem Frausein ungemäßes, nämlich politisches Handeln fordert, nie ganz ausfüllen können... Schiller hat sich selbst hierüber ausgedrückt, denn Elisabeth soll nach seinen Angaben höchstens dreißig Jahre alt sein, ‚eine h Frau, welche Ansprüche machen darf‘, und Maria sogar nur fünfundzwanzig d Jahre zählen. Die allgemeine Regieauffassung unseres vergangenen und gegenwärtigen Theaters, die die Elisabeth stets als häßliche Frau in den gefähr­lichen Jahren der lieblichen und anmutigen Maria gegenüber herausstellt, ~• widerspricht der Auffassung des Dichters, der kein bürgerliches Rührstück wollte. Allerdings kommt das Trauerspiel in seiner glatten Gekonntheit und d seinen theatralischen Wirkungen der falschen Auffassung sehr entgegen, s~ daß selbst im Theater der Gegenwart wenige Aufführungen zu verzeichnen sind, die den eigentlichen Gehalt des Dramas zum Ausdruck bringen. Das geschieht nicht dadurch, daß man die Staatsaktion — das Geschichtliche — mehr betont, sondern indem man in den Frauenrollen die Tragik des Nich t-p oh-tisch-handeln-könnens herausbringt. Wenn man das Trauerspiel von diesem Blickpunkt betrachtet, stellt sich heraus, daß Elisabeth noch stärker als vorher zur Hauptfigur wird. Jeder Vergleich mit dem geschichtlichen Geschehen sei vermieden. Wir wollen uns nur an die Tatsachen halten, wie sie im Drama selbst vorliegen. Denn die falschen Auffassungen — wie zum Beispiel über das Alter der Königin Elisabeth — sind allein von der an Quellen ausgerichteten philologischen Auslegungsart der letzten hundert Jahre hervorgerufen. Maria, Königin von Schottland, von ihrem Volke wegen Mordes an ihrem Gatten vertrieben, flieht nach England und bittet Königin Elisabeth um Gastrecht. Elisabeth kann ihr, der Staatsfeindin, das Gastrecht nicht gewähren. Sie nimmt sie gefangen und läßt ihr den Prozeß machen, in dem Maria zum Tode verurteilt wird. Die Richter sind Peers, die ihren Glauben unter vier Regie­rungen viermal änderten. Das Gesetz, nach dem Maria verurteilt wurde, ist für sie besonders vorher gemacht worden. Alle diese vermeintlichen Unge­rechtigkeiten sind kein Einwand gegen Elisabeth, denn: Maria ist eine ge­fährliche Staatsfeindin. ‚Die Blutgerüste füllen sich für sie / Mit immer neuen Todesopfern an‘, sagt Paulet. Wohl hat Maria die Meuchelmörder nicht selbst gedungen, aber ihren Anspruch an England gibt sie grundsätzlich nicht auf. Ihre weibliche Schönheit schafft ihr immer neue eigennützige (Leicester) und uneigennützige (Mortimer) Verteidiger und Kämpfer für ihr Recht. Ihre Stellung als Königin von Schottland, als Schwägerin des Königs von Frank-reich und als eine geborene Stuart und Verwandte der Tudors bewirkt die größten außenpolitischen Schwierigkeiten für England. Maria ist keine Privatperson, sie ist eine Staatsfeindin. Mortimer, von den Jesuiten geschult, empfindet recht, wenn er zu ihr sagt: ‚Nur euer Tod versichert ihren Thron.‘ Die Lage ist denkbar klar. Wenn Elisabeth staatlich handelt, läßt sie Maria entweder sofort hinrichten, oder sie wagt es, die Nebenbuhlerin und Staats-feindin lebenslänglich einzukerkern. Daß Elisabeth lange zaudert und schließ­lich ihre verletzte Eitelkeit und ihre geweckte Eifersucht den Ausschlag zur Unterzeichnung des Todesurteils geben, ist sehr weiblich, aber unpolitisch ge­handelt. Elisabeth ist sich ihrer weiblichen Ohnmacht bewußt. Sie fühlt sich dem Anspruch des Herrscheramtes nicht gewachsen. Sie hat schon viele Todes­urteile ihr gleichgültiger und unbekannter Menschen, die ihr von ihren Mmi-stern unterbreitet wurden, unterschrieben. Aber hier, wo sie bei der ebenbür­tigen Verwandten das Erlebnis des Todes hat, versagen ihr die Kräfte. Herr zu sein über Leben und Tod wie ein Gott, das kann die Frau in ihr nicht. Aus diesem Grunderlebnis ist ihr ganzes Handeln zu verstehen: ihre Entschluß-losigkeit, ihr Ausweg, Maria vergiften zu lassen, die unbestimmte Art der Auslieferung des unterzeichneten Urteils an ihren Schreiber, der Versuch der Widerrufung und die Verbannung des Vollstreckers: Burleigh. Es ist tra­gische Ironie, wenn gerade Burleigh, die Persönlichkeit in der Umgebung Elisabeths, die hart und unerbittlich, aber uneigennützig und allein politisch handelt, so endet...

Maria ist als Königin politisches Oblekt auswärtiger Mächte. Eine politi­sche Tragik wie Elisabeth kennt sie nicht. Alle Personen sind bestimmte Fi­guren eines Intrigenspiels, in dem fremd und groß die tragische Gestalt der Königin Elisabeth sich bewegt. Denn diese Königin ist sich der großen Verantwortung ihres hohen Amtes bewußt: sie weiß von dem englischen Volk, dem sie bei der beabsichtigten Verheiratung mit dem Dauphin ihre Persön­lichkeit opfern und für dessen Freiheit sie kämpfen will. Nur die außerordentlichen Verhältnisse haben sie an der Grenze weiblich-politischen Han­delns geführt, an der sie innerlich zusammenbricht.“ (Hermann Christian Mettin)

 

 

Verflochtenheit des Menschlichen und Politischen

Anfang

 „Die Auseinandersetzung zwischen Elisabeth und Maria, wo Elisabeth trotz der Macht der verlierende Teil ist, der menschlich widerlegt und sitt­lich belastet wird, und umgekehrt Maria der gewinnende Teil ist, dessen ver­gangene ‚Blutschuld‘ sich im Laufe des Dramas mehr und mehr verringert, so daß sie am Ende, wie Schiller gesagt haben soll, fast makellos dasteht, diese Auseinandersetzung ist nicht nur eine solche des Gewissens und der Ehre, sondern auch des politischen Machtkampfes. Es handelt sich hier nicht nur um sittlichen und menschlichen Heroismus, sondern ebenso um den unver­söhnlichen Streit zweier Königinnen. Maria ist bereit, politisch zu entsagen. Sie will sich ehrlich unterwerfen und nur noch Mensch sein. Aber auch als Mensch kann sie nicht darauf verzichten, groß, frei, königlich zu fühlen und zu handeln. Gerade hierin liegt, wie Elisabeth deutlich erkennt, wiederum eine politische Gefahr, die Elisabeth nicht nur mit den Augen des von Eifer­sucht auf Marias Schönheit gequälten Weibes sieht, sondern auch mit den Augen der englischen Königin, hinter der gleichsam die Staatsvernunft Bur­leighs steht. Denn Marias menschliche Größe bleibt eine politische Macht, die sich aus dem politischen Zusammenhang von Blut, Abstammung und Glau­ben, dem Maria angehört, nicht herauslösen läßt. Erst die gedemütigte, klein und bedeutungslos gemachte Maria kann die Krone Englands nicht mehr ge­fährden. Weil Elisabeth das weiß und weil sie in der mit Liebe und Glück verwöhnten Gegnerin zugleich die magischen Kräfte spürt, die Maria immer wieder in den Herzen noch gegen England zu erwecken vermag, darum haßt sie Maria, nicht nur mit dem Haß des Weibes, sondern nicht minder mit dem Haß der Königin, die Maria auch als Mensch vernichten muß, wenn sie ihre eigene politische Macht behaupten will. Die ‚rührende Gestalt‘, wie Mortimer‘ Maria nennt, findet trotz Kerkerhaft und Lebensbedrohung stets von neuem die Verschwörer, die sich dem ‚Beil des Henkers‘ geradezu entgegendrängen. Aber, wenn Elisabeth Maria menschlich erniedrigen will, um sie auch poli­tisch nicht mehr fürchten zu müssen, so erreicht sie damit das Gegenteil. Ma­ria kann dem Anspruch auf das Reich entsagen, sie kann sich vor der Köni­gin politisch demütigen, nicht aber sich in ihrer menschlichen Würde und persönlichen Freiheit schmähen lassen. In dem Augenblick aber, wo Elisabeth sie auch als Menschen herabzuziehen sucht, erwacht in Maria wieder die Königin, und sie schleudert Elisabeth jene unerhörten Worte der menschlichen, aber ebenso der politischen Herausforderung entgegen, von denen sie weiß, daß sie mit ihnen ihr Leben verwirkt. Auch Maria wird sich bewußt, daß sich ihre menschliche Würde und ihr königliches Amt nicht trennen lassen, daß sie nur dann ihre Freiheit als Mensch bewahrt, wenn sie nicht weniger an ihrem Recht als Königin festhält. Der Thron von England ist durch ‚einen Bastard‘ entweiht worden, und wenn das Recht regierte, so läge Elisabeth jetzt vor Maria im Staub, ‚denn ich bin euer König‘. Erst in der Verschmel­zung der persönlichen und menschlichen Motive mit den politischen wird die an sich ‚moralisch unmögliche‘ Situation zu einer tragisch notwendigen ... Die Frage nach der Schuld und der Gerechtigkeit, die zwischen den beiden Königinnen zum Austrag gelangt, mündet wiederum in die geschichtliche Notwendigkeit, unter der beide stehen und von der aus sie ihre Sache zu Ende kämpfen müssen. Das Unvergleichliche dieser Szene liegt in der Ver­knüpfung der zunächst rein menschlichen und persönlichen Frage nach Schuld, Freiheit und Gerechtigkeit mit den politischen Notwendigkeiten, wo sich nicht nur Mensch und Mensch, sondern auch die englisch-protestantische und die schottisch-katholische Königin einander gegenüberstehen und wo die menschlichen und sittlichen Konflikte der beiden Frauen und Königinnen weltgeschichtliche Bedeutung gewinnen und über beide hinauswachsen.

Aus der Verflochtenheit des Menschlichen und des Politischen, die vom Streit der beiden Königinnen bis zu allen in ihr Schicksal verflochtenen Personen reicht, kann es nur einen Ausweg geben, Marias Tod... Auch hier wieder lassen sich die politischen Motive herausarbeiten, die mit dieser sitt­lichen Polarität von Notwendigkeit und Freiheit verschmolzen sind. Maria weiß, daß zwischen ihr und England ‚nicht vom Rechte, von Gewalt allein‘ die Rede ist. Sie möchte die Gegnerin dazu zwingen zuzugeben, daß ‚sie die Macht allein, nicht die Gerechtigkeit geübt‘, daß sie Maria nur ermorden, aber nicht richten lassen kann. Doch ein solches Eingeständnis würde für die englische Krone eine erneute Gefahr bedeuten. Elisabeth will daher Maria nicht nur ‚physisch‘, sondern auch ‚moralisch‘ vernichten und für sich sel­ber den Schein der Gerechtigkeit wahren. Aber gerade das muß ihr mißlin­gen. Die ‚physische‘ Vernichtung der Gegnerin führt zu ihrer ‚moralischen‘ Verklärung, und eben dies bedeutet für Elisabeth auch eine Gefährdung ihres politischen Sieges. Die ‚tote‘ Maria, die mit Würde gestorben ist, ist mehr zu fürchten als die lebende. Ihre menschliche Größe bleibt der Schatten, der über der englischen Politik der Staatsraison liegt und die treuesten Herzen Elisa­beth abtrünnig macht. Wieder dichtet hier Schiller, wie bereits im ‚Fiasco‘, im ‚Don Carlos‘, im ‚Wallenstein‘, die unauflösbare Spannung von Macht und Gerechtigkeit, von Politik und Sittlichkeit... Am Ende steht Elisabeth mo­ralisch belastet vor uns, vereinsamt, von allen verlassen und selbst noch von der toten Maria, die menschlich und politisch in erhabener Größe starb, her­abgedrückt und entwertet. Aber sie ‚bezwingt sich und steht mit ruhiger Fas­sung da.‘ Diese letzte Gebärde deutet auf keinen Zusammenbruch hin, son­dern auf ein entschlossenes und mutiges: Und dennoch! Elisabeth wird die Politik allein weiterführen, zu der sie Burleigh noch drängen mußte. Maria Stuart bekennt sich sterbend zu der erhabenen Freiheit des Menschen, seinen Tod zu wollen; aber auch die Haltung der Elisabeth hat Größe, wenn sie ihre englische Königspflicht nicht preisgibt, sondern noch gegen den Schatten der Maria, der eine unversöhnliche moralische Anklage für Elisabeth bedeu­tet, das Elisabethanische hochenglische Zeitalter verwirklichen wird. « (Benno von Wiese)

Quelle:Rudolf Ibel;Maria Stuart;Gedanken und Grundlagen zum Verständnis des Drams; Diesterweg 1981